
Karin Mairitisch, Rektorin der ZHdK. Foto: Regula Bearth © ZHdK
In welchem Wertegefüge bewegt sich eine Hochschule der Künste? Wie politisch ist Kunst? Ist sie systemrelevant? ZHdK-Rektorin Karin Mairitsch steht Rede und Antwort.
VON SYLVIA BATTEGAY
___
Sylvia Battegay: Ist Kunst politisch?
Karin Mairitsch: Ich würde weder abstrakt von Kunst reden noch verallgemeinern und schon gar keine Postulate formulieren. Wodurch entsteht Kunst? Durch Menschen. Es geht also in einer ersten Annäherung um die Menschen, die in ihrer Vielfalt entsprechend vielfältig Design, Kunst und deren Vermittlung hervorbringen. Dass Menschen in Kontexte eingebunden, politisch aufgeladen und in einer Demokratie Stimme sind, mag manchmal unangenehm sein, ist aber ihre Aufgabe. Sie nehmen verschiedene Positionen zu unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Fragestellungen ein. Was sie hervorbringen, ist somit gesellschaftlicher Resonanzboden.
Wie verhält sich dazu die Neutralität einer Hochschule der Künste?
Die Hochschule ist der Boden, auf dem sich diese Menschen bewegen. Dieser Boden muss neutral sein, damit jede:r Student:in als Individuum und als Künstler:in ganz anders sein kann. Gelebte Pluralität geht nur, wenn es als Rahmenbedingung die Sicherheit gibt, dass Vielfalt Platz hat. Dafür braucht es den neutralen Boden.
Kann eine Institution wie die ZHdK gänzlich neutral sein?
Eine Institution kann insofern nicht gänzlich neutral sein, als sie ein Bekenntnis haben muss. Ein Bekenntnis im Sinne einer Haltung. Meiner Meinung nach sind das ganz klar die Menschenrechte als fundamentale Basis, eine demokratische Verfassung und Autonomie.
Menschenrechte, Demokratie, Autonomie. Bilden sie das Wertegefüge einer Hochschule?
Unsere Hochschule hat ein Leitbild. Wenn darin von «kultureller, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Verantwortlichkeit», von «Offenheit, kritischer Neugier, Respekt und selbstkritischer Reflexion» sowie von «Nachhaltigkeit und Autonomie» die Rede ist, finde ich auch die Menschenrechte, Demokratie und Autonomie wieder. Ich bin glücklich darüber, dass an dieser Hochschule Werte formuliert sind. Und es freut mich, dass sich diese Hochschule dem Diskurs aussetzt, immer wieder. Das ist ein gesellschaftspolitischer Zugang, der sich im Künstlerischen fortsetzt. Darüber hinaus freut es mich, dass die gegenwärtige Generation ZHdK-Studierender kritisch-reflektiert und somit auf eine bestimmte Art auch politisiert ist. Wir leben in einer spannenden Zeit.
Wie sieht es in diesem Zusammenhang mit der Woke Culture aus? Wie wird sich die ZHdK unter Ihrer Leitung dazu positionieren?
Das ist ein brisantes gesellschaftspolitisches Thema, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen – als Individuen wie auch als Hochschule der Künste. Mir ist es langfristig wichtig, gemeinsam mit ZHdK-Angehörigen eine Positionierung zu entwickeln, die breit abgestützt ist und mit der wir uns vertreten fühlen. Eine Positionierung mit einer Haltung, wie sie auch im Leitbild verankert ist.
Wie schätzen Sie das Potenzial der ZHdK in Sachen Nachhaltigkeit ein?
Ich habe den Eindruck, die ZHdK geht das Thema Nachhaltigkeit sehr bewusst an, sowohl auf betrieblicher als auch auf vermittelnder, forschender und künstlerischer Ebene. Nehmen wir das Dossier Nachhaltigkeit: Es leistet einen wichtigen Beitrag dazu, dass sich Lehre, Forschung, Vermittlung, Design und Künste immer wieder neue Möglichkeiten erschliessen, die ZHdK langfristig nachhaltig zu gestalten.
Dass Nachhaltigkeit im ZHdK-Alltag verankert ist und bleibt, ist zudem ein Verdienst unserer Studierenden: Sie haben ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass wir auf einem Planeten leben, der Grenzen hat. Diese Generation kümmert sich darum, welche Auswirkungen unser Handeln auf die Gesellschaft, die Umwelt und die Wirtschaft hat – im Kleinen wie im Grossen. Soweit ich es beurteilen kann, hat diese Generation den Anspruch, Mensch zu sein. Nicht nur individuell, sondern auch kollektiv und global. Die Künste haben grosse Expertise darin, hierzu einen wichtigen Beitrag zu leisten.
Wie sehr ist ein Mensch Mensch, wenn er ohne Kunst ist?
Ich würde sagen: gar nicht. Der Wert der Kunst liegt darin, Sinn zu generieren, zu sich zu kommen und bei sich zu sein, um mit sich hinauszugehen.
Damit räumen Sie der Kunst im Menschsein einen sehr hohen Stellenwert ein. Wie erklärt sich die Diskrepanz zur gesellschaftlichen Wahrnehmung, die der Kunst diesen Stellenwert nicht beimisst?
Ich vermute, dass es hier um Machtdiskurse geht. Als Mensch gilt es, authentisch, reflektiert, sinnlich, gestaltend und kreativ zu sein, sich etwas vorstellen zu können. Imaginieren kann aber gefährlich sein: für einen selbst, für Institutionen, für jede:n. Kunst beruht auf einer Zeitdiagnose. Diese Befundung kann durchaus kritisch mit vorherrschenden Systemen und Strukturen umgehen. Sie kann dem Zeitgeist widersprechen oder blinde Flecken aufdecken und vieles mehr. Das ist zuweilen unangenehm. Wie gefährlich Imagination sein kann, hat die Geschichte wiederholt gezeigt. Es hat viele Künstler:innen gegeben, die ihrer Zeit voraus waren. Sie waren nicht anschlussfähig, ihre Kunst wurde oft als Bedrohung der vorherrschenden Ordnung wahrgenommen. Aus der heutigen Sicht nimmt man sie als sehr progressiv wahr. Und genau das ist der Punkt: Mit der Imagination geht ein Interpretationswechsel einher, ein Kurswechsel in Bezug darauf, wo die Schwerpunkte liegen.
Gibt es Hoffnung, dass Kunst als systemrelevant betrachtet wird?
Ich vertraue auf unsere Erkenntnis, dass alles zusammenhängt und wir miteinander leben, dass das eine nicht wichtiger ist als das andere. Letztlich ist auch eine Analogie zur Natur interessant: Wenn man die Bienen aus ihr rausnimmt, gibt es gar nichts mehr. Wenn man die Künste aus dem System nimmt, wird es ins Wanken geraten. Für mich ist das aber eine eigenartige Frage: Was ist systemrelevant? Welche Disziplin oder welches Tool? In Wahrheit muss man sagen: Der Mensch ist systemrelevant.