Fuck or unfuck the system?

Mit dem Major-Minor-Studium die eigene Bildungsbiografie neu schreiben. Illustration: Corina Brändle

Das heutige Bildungssystem wurde nach den Bedürfnissen der Industrialisierung Anfang des 19. Jahrhunderts geformt. Was wäre, wenn wir Bildung nach den Bedürfnissen von heute formen würden? VERSO-Studierendenrätin Lena Marie Rheinländer teilt im folgenden Plädoyer ihre Gedanken dazu.

VON LENA MARIE RHEINLÄNDER
___

Mit dem Major-Minor-Studium strebt die ZHdK 2023 einen entscheidenden Wechsel an. Das neue Studiensystem ermöglicht es Studierenden, sich über die gewählte Kunstdisziplin hinaus in weitere zu vertiefen. Dieser Wechsel wird sowohl hoffnungsvoll gesehen als auch kritisch beäugt.
Im Studiengang Film stellte sich kürzlich die Frage, welches die Grundwerte unserer Generation seien. Nach einiger Zeit kam eine Antwort: Flexibilität. Flexibilität in der methodischen Arbeitsgestaltung und zeitliche Flexibilität, um nebst dem Studium nötige Praxiserfahrungen sammeln und das Privatleben sowie die Finanzierung des Studiums bewältigen zu können. Zudem wurde der Wunsch nach Kreativität geäussert. Denn Kreativität hat per se nicht zwingend etwas mit dem Studium an einer Kunsthochschule zu tun. Kreativität ist lediglich der Prozess des abstrakten Denkens. Mithilfe unserer Vorstellungskraft können wir neue Zusammenhänge schaffen, diese zu einer Idee formen und sie im Anschluss innovativ umsetzen. Eine Qualität, die in der Bildung nur in Ausnahmefällen genutzt oder gelehrt wird. Warum ist das so?

Es reicht heute nicht mehr, «nur» über die Kompetenzen des eigenen Fachgebietes zu verfügen.

Unsere «allgemeine Menschenbildung» beruht auf einer aus der Zeit der Industrialisierung stammenden Denkweise, als primär auf Faktenrichtigkeit, Strategie und Analytik gesetzt wurde, um Arbeitskräfte zu generieren. Dieses System besteht weltweit bis heute. Auch an Kunsthochschulen.
Die gesellschaftlichen Anforderungen dagegen ändern sich kontinuierlich. Heute stellen uns Themen wie der Ukraine-Krieg und die Klimakrise vor enorme Herausforderungen. Wir haben noch nie so viel offenen Diskurs zum Thema Gleichheit und Unabhängigkeit betrieben. Und angesichts des Ausmasses der Technologisierung unseres Alltags sprechen wir längst von einer technischen Revolution.

Es reicht heute nicht mehr, als kunstschaffende Person «nur» über die Kompetenzen des eigenen Fachgebietes zu verfügen. Wir müssen über mediale und kommunikative Fähigkeiten verfügen, konzipieren, administrieren, verhandeln und ständig am Ball bleiben. Zudem gibt es aufgrund der zunehmenden Weltbevölkerung immer mehr Studierende und damit auch immer mehr hoch qualifzierte Menschen, die in ihrem Berufsfeld keine Arbeit finden. Weil der Konkurrenzkampf immer grösser wird und die Studienabschlüsse an Wert verlieren.

Der Wechsel zum Major-Minor-Studium gibt uns die Chance, den Anforderungen der Arbeitswelt besser zu entsprechen.

Die Anforderungen der Arbeitswelt sind nicht kohärent mit dem, was wir erlernen. Jedenfalls nicht für alle Studierenden. Der Wechsel zum Major-Minor-Studium gibt uns die Chance, diesen Anforderungen besser zu entsprechen. Wir als ZHdK müssen uns trauen und vertrauen, mehr Raum für Kreativität zuzulassen und offen für Transdisziplinarität zu sein, um nachhaltige und innovative Formen der Künste zu entdecken und die geforderte Flexibilität im Studium und in der Arbeitswelt zu generieren. Dazu passen Abraham Lincolns Worte von 1862: «The dogmas of the quiet past, are inadequate to the stormy present. The occasion is piled high with difficulty, and we must rise – with the occasion. As our case is new, so we must think anew, and act anew. We must disenthrall ourselves, and then we shall save our country.» In diesem Sinne: Fuck the system, unfuck the fear of change.

Lena Marie Rheinländer (lena.rheinlaender@zhdk.ch) studiert im Bachelor Film im Departement Darstellende Künste und Film und ist Studierendenrätin in der Studierendenorganisation VERSO.
Teile diesen Beitrag: