
Aus der Diplomproduktion Master Theater, Dramaturgie: «In Search of Our Common Ground», 2021. Foto: Regula Bearth © ZHdK
Kunsthochschulen sind Orte der Wissensvermittlung und des Lernens, die im Zug des gesellschaftlichen Wandels vor neuen Herausforderungen stehen. Sie müssen bestehende Auffassungen in den Künsten zur Diskussion stellen und entgrenzen. Zentral in diesem Prozess sind das Sharing und Unlearning. Marijke Hoogenboom stellt zwei Strategien vor, wie wir zu einem fluiden Laboratorium werden, in welchem Alternativen experimentell geübt und gelebt werden.
VON MARIJKE HOOGENBOOM
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Über viele Jahre war meine Arbeit in der Kunsthochschule von einem Zitat des indigenen amerikanischen Schriftstellers N. Scott Momaday geprägt: «We are what we imagine – Our very existence consists in our imagination of ourselves – The only tragedy that can befall us is to go unimagined.»
Mein damaliger Mitstreiter Ritsaert ten Cate und ich hatten es zum Leitmotiv unseres Auftrags gemacht, das erste postgraduale Studium für Performing Arts in den Niederlanden zu gründen (DasArts an der Amsterdam University of the Arts). Wir waren vom Potenzial der Kunst, die Dinge radikal «anders» zu denken, durchdrungen. Und wer, wenn nicht junge Künstler:innen, hat die Vorstellungskraft, den Mut und die Bestimmtheit, kulturelle, ökonomische oder gesellschaftliche Alternativen aufzuzeigen, auf und jenseits der Bühnen? Es waren die 1990er-Jahre, wir waren überzeugt, dass es so was wie Fortschritt und Entwicklung gibt, dass wir unsere Zukunftsvorstellungen an die nächste Generation weitergeben sollten, um damit zu ihrer Emanzipation und Ermächtigung beizutragen. Selbstverständlich orientierten wir uns dabei an den grossen Utopien, am Unmöglichen, zu dem wir unsere Studierenden ermutigen wollten. Allerdings auch an der Spezies Mensch – dem handelnden Anthropos – im Zentrum einer «machbaren Welt». «We are what we imagine.»
Unsere Rollen zur Diskussion stellen
Heute ist es fast unvorstellbar, dass man von Zukunft spricht, ohne von der eigenen Position und Verantwortung zu sprechen. Die Zeit, in der wir als aufgeklärte Individuen auf einem sicheren Hügel standen, um von dort aus – mit panoramischer Sicht – die Welt zu betrachten, ist für immer vorbei. Wir stehen mittendrin, sind umgeben, ganz und gar umzingelt, und das Einzige, was wir tun können, ist, uns von den Geschehnissen, den Verhältnissen in dieser Welt bewegen zu lassen. Peter Sloterdijk sagte schon vor 15 Jahren: «Die Immersion ist überall. Wir müssen uns von dieser Welt anstecken, infizieren, vergiften lassen.» Das klingt nach den Erfahrungen einer beängstigenden Pandemie bitter, aber dennoch ist «Intoxication» zum Schlüsselbegriff des 21. Jahrhunderts geworden.

Aus der Diplomproduktion des Kollektivs Hotel Regina, Master Theater, Dramaturgie: «I Was Here. Eine Bergwanderung», 2021. Foto: Franziska Martin
Kunsthochschulen sind Orte des Wissens, der Wissensvermittlung und des Lernens, die im Zug des gesellschaftlichen Wandels vor neuen Herausforderungen stehen. An erster Stelle gilt es vielleicht, unsere Rolle als staatliche Ausbildungsinstitution grundsätzlich zur Diskussion zu stellen. Ich meine nicht den Ort an sich, sondern unsere Praxis, um den Status quo im Berufsfeld (Disziplinen, Methoden und Strukturen) aufrechtzuerhalten und als Tradition weiterzugeben. In diesem Sinne ist die künstlerische Lehre zwangsläufig konservativ, selbsterhaltend. Oder wie der britische Kunsttheoretiker Charles Esche sagt: «It is the backdrop against which society makes visible the limitations of its concept of art. And if our view of the arts is limited, then so too is our view of society.» Entsprechend ist im Umkehrschluss unser Innovationspotenzial untrennbar mit der Bereitschaft der Ausbildungen verbunden, bestehende Auffassungen in den Künsten vehement und kreativ zur Diskussion zu stellen und zu entgrenzen.
Sharing und Unlearning
Ich sehe im Moment mindestens zwei Strategien, die verhindern, dass wir uns auf althergebrachte Gewohnheiten zurückziehen und tatsächlich Vielfalt in Lehre, Forschung und Kunst fördern:
- Sharing: Vor allem in der Forschung wird die Wissensproduktion immer öfter von mehreren Fachgebieten gemeinsam vorangetrieben. Es geht um Fragestellungen, die sich nicht mehr nur aus einer Perspektive bearbeiten lassen. Um komplexe Zusammenhänge, die wir nicht mehr nur mit einer Expertise verstehen oder unausweichlich – um sie noch zu verstehen – in andere Formate, Sprachen und Medien übersetzen müssen.
- Unlearning: Mit diesem Begriff wird aktiv der Versuch unternommen, bestehende Glaubenssysteme in der Bildung zu dekonstruieren und Inhalte neu zu definieren. Das kulturelle Gedächtnis soll nicht zur Seite gelegt, sondern kritisch reflektiert werden. Vor allem vor dem Hintergrund von Inklusion und Diversifizierung, von der Öffnung der etablierten Institutionen für viel breitere Zielgruppen.
«We are what we imagine?» Welche Rolle wollen unsere Studiengänge als Orte der Wissensproduktion künftig spielen? Wollen wir weiter für einen Theater- , Tanz- oder Filmmarkt produzieren, der sich einer gewachsenen Tradition verpflichtet, oder lebendige Orte etablieren, die nach künstlerischen Innovationspotenzialen für gesellschaftliche Transformation forschen? Wie verändert sich dadurch das Verhältnis von Lehrenden und Lernenden? Wie kann unsere Hochschule zu einem fluiden Laboratorium werden, in welchem experimentiert, Alternativen geübt und gelebt werden?
Ich bin gerne bereit, meinen alten Leitsatz aufzugeben. Aber ich möchte nicht aufhören zu fragen: What can be imagined? By whom, for whom and how?