Improvisieren lehrt uns zuzuhören

Wie, wo und wann treffen Klänge zusammen? Akkorde? Zufälle? Klavierdozent Chris Wiesendanger verdeutlicht die Vielschichtigkeit der Improvisationskunst in seinem Essay. Foto: Chris Wiesendanger

Sprechen, Lesen, Schreiben und Zuhören sind Grundlagen der Kommunikation. Wo aber bleibt das Zuhören? Erst das Zuhören erlaubt uns, Situationen zu lesen, ihr Potenzial zu erkennen und entsprechend geschickt zu agieren. Und agieren bedeutet immer auch auf Basis des Gehörten zu improvisieren.

VON CHRIS WIESENDANGER
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Wir haben Jahre gebraucht, um Lesen, Schreiben und Sprechen zu lernen. Was aber ist mit Zuhören? Welche Erziehung und Ausbildung, welches Training haben wir erfahren, um Hören, Zuhören zu lernen? Sprechen, Lesen, Schreiben und Zuhören sind die Grundlagen der Kommunikation. Zuhören aber haben wir kaum gelernt und vergessen es oft. Hier muss die Improvisation ins Spiel gebracht werden.

Improvisieren ist zuallererst Hören. Höre ich Neues, stelle ich Beziehungen zu abgespeicherten Klängen her. So entstehen Handlungen, Ein- und Zugriffe, Phrasen, Rhythmen, Texturen… Vorerst sind es Zu- und Einordnungen, Differenzierungen wie «ah, das kenn ich» oder «oh, noch nie gehört». Aus diesen eröffnen sich zahlreiche Möglichkeiten.

Improvisieren ist das Erkennen von Möglichkeiten. Es geht darum, eine Situation zu lesen: Soll ich meine Idee einbringen? Ermögliche ich damit etwas? Oder verunmögliche ich etwas Inhärentes? Es entsteht ein Geflecht von Möglichkeiten und Fragen. Wie lerne ich, die Möglichkeiten des Moments zu erkennen? Wie lese ich eine Situation?

Vertrauen in den Wandel

Hier finden wir die Kunst des Improvisierens. Erfahrene Improvisator:innen treffen sichere Entscheidungen. Spielerfahrung, intensives Hörtraining und ein beinahe schamanistisches Gespür für künftige Aktionen spielen dabei eine entscheidende Rolle. Massgebend ist das Vertrauen in den Wandel. Wir fügen die Idee in einen Prozess ein und verfolgen die Wirkung. Wir lernen, dass geschickte Lenkung Entwicklungen anstösst und Zwang unerwünschte Reaktionen hervorruft. Die beste Strategie vertraut auf grenzenlose Offenheit. Gewichtige Gegenspieler sind Klischees, Konventionen, Gewohnheiten, Reflexe.

Wir fangen mit einfachen Hörübungen an.
1. Auf einzelne Töne hören. Wo und wie beginnt beziehungsweise endet ein Ton? Ich höre auf die feinen Bewegungen innerhalb des Tones. Finde eine Lücke und füge den nächsten Ton ein. Ich höre im Ton dessen Sein, aber auch sein Potenzial.
2. Auf die Pausen hören. Pausen sind ganz bestimmt nicht einfach Stille, sondern Rhythmus. Ich denke über die Balance zwischen Tönen und Pausen nach. Braucht es eine Ökonomie der Töne? Wir verschwenden zu viele Töne. Töne sind wertvoll, Pausen genauso. Wir müssen bewusst mit Ressourcen umgehen. Könnte Improvisation nicht einen wertvollen Beitrag an eine ökologischere Welt leisten?
3. Wie, wo und wann treffen Klänge zusammen? Akkorde? Zufälle? Lassen sich beim Improvisieren Absicht und Akzidens unterscheiden? Improvisation bringt gerade durch Unbeabsichtigtes emergente Strukturen hervor. Ein Tanz der Möglichkeiten beginnt.

Brauchen, was nicht da ist

Die Welt der Musik ist geheimnisvoll, zerbrechlich. Zu starkes Einwirken zerstört sie. Wer etwas festhalten will, verliert es. Als Improvisator füge ich der Situation etwas hinzu, indem ich Gebrauch dessen mache, was nicht ist. Das ist vielleicht das höchste Ziel der Improvisation.

Als Improvisator verstehe ich gut, was mit «No Regrets» gemeint ist. To regret something is not being present. Regret beinhaltet «grüssen». Ich besuche einen alten Freund. Bedauern schliesst das Wort «Dauer» ein. Das Präfix Be signalisiert eine Zustandsänderung. Etwas freier: Ich arbeite mit der Erinnerung.

Der einzige Weg, das Improvisieren zu lernen, ist das Tun. Auch der Fehltritt gehört dazu. Diesen während des Spielens zu bedauern bringt nichts hervor.

Aber zurück zu meiner Eingangsfrage. Sollte nicht «Listen twice as much as you speak» unser Leitsatz werden? Zuhören macht bessere Kommunikator:innen aus uns. Sprechen hat seine Zeit, Zuhören ebenso. Improvisieren lehrt uns zuzuhören, davon bin ich zutiefst überzeugt.

wiesendangermusic.ch

Chris Wiesendanger (chris.wiesendanger@zhdk.ch) lehrt Klavier, Rhythm-/Vocalsection im Profil Jazz und Pop und in der Weiterbildung. Er spielt am Montag, 11. April 2022, um 19.30 Uhr, im Konzertsaal 3 der ZHdK ein Solokonzert mit freien Improvisationen.

 

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