Andere Arten, «Welt» zu denken

Dozierendenporträt: Sønke Gau

Mitten im Kreis 4: Sønke Gau auf der Dachterrasse seiner Wohnsiedlung. Foto: Alan Maag

Sønke Gau beschreibt das Studium als eine «permanente situative und gemeinsame Suchbewegung». Der Kurator, Kulturwissenschaftler und Dozent im Departement Kulturanalysen und Vermittlung forscht zu Institutionskritik, über die (Re)politisierung künstlerischer Praktiken und zu Aneignungsprozessen von Panzersperren.

VON MARTINA EGLI
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Kurator und künstlerischer Leiter auf der einen Seite, forschender Kunst- und Kulturwissenschaftler auf der anderen? Die breiten Tätigkeitsfelder von Sønke Gau lassen sich nicht nach einem solchen Muster aufschlüsseln. Vielmehr zeigt sich schnell, dass Theorie und künstlerische Praxis für Gau zusammengehören: Gerade ihr Miteinander, ihre Reibungsflächen und Widersprüche interessieren ihn. «Schon als künstlerischer Co-Leiter der Shedhalle Zürich verstand ich mich als Mittlerfigur zwischen Publikum, Künstler:innen, Kurator:innen, Theoretiker:innen und Aktivist:innen», blickt er zurück. «Für mich erfüllt kuratorisches Handeln eine zentrale Scharnierfunktion zwischen Theorie und Praxis.» In ebendiesem «Dazwischen» bewegt sich Sønke Gau als Senior Researcher im Departement Kulturanalysen und Vermittlung – und zurzeit öfter auch im Schweizer Mittelland auf Forschungsspaziergängen mit Simon Graf und Florian Wegelin.

Phantasmen der Verteidigungspolitik

Karg und grau, von Moos überwachsen oder in Vorgärten integriert liegen die Forschungsgegenstände der von ihm als Projektleiter moderierten Forschungsgruppe in der Landschaft: Panzersperren. Das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderte Forschungsprojekt «Materialisierte Erinnerungen (in) der Landschaft» wurde vom Ethnografen Graf und vom Künstler Wegelin konzipiert, die beim Spazieren auf Panzersperren und damit auf eine Forschungslücke gestossen waren. Ihnen ist in der Forschung bisher kaum Aufmerksamkeit zugekommen, während etwa Bunker von Wissenschaftler:innen und Denker:innen wie Paul Virilio sowie kürzlich Katrin von Maltzahn und Mona Schieren auf ihre Bedeutungen hin analysiert worden sind. «Panzersperren sind Phantasmen der Verteidigungspolitik», so Gau. «Wir untersuchen, wie sich ihr Bedeutungswandel in raumpolitischer, ästhetischer und erinnerungskultureller Hinsicht entwickelt hat: Im Fokus stehen die Aneignungsprozesse und Umdeutungen.» Ethnografische Methoden wie Spaziergangsgespräche mit Anwohner:innen treffen im Forschungsprozess auf künstlerische Formate wie Filme und Postkarten, die wiederum bei Review-Veranstaltungen zu den Gesprächspartner:innen zurückgespielt werden. Auch in diesem iterativen und explorativen Setting kommt Gau die Mittlerrolle zu, um eine gleichberechtigte Verbindung von künstlerischer Praxis und wissenschaftlichen Theoriebezügen zu gewährleisten.

Macht, Kunst und Kapitalismus

Thematisch zieht sich ein roter Faden durch Sønke Gaus Projekte und Lehrveranstaltungen: die politische Dimension des Kulturellen. Aus immer wieder anderen Blickwinkeln hinterfragt er Machtverhältnisse, Repräsentationspolitiken und ihre Konsequenzen. Mit seinem ersten SNF-Forschungsprojekt «Institutionskritik als Methode» untersuchte er die Wirkungsmacht künstlerischer Praktiken über das künstlerische Feld hinaus. Wann zeigt Kunst in politischen Diskursen Wirkung? Wie kann künstlerische Kritik auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam oder solche sichtbar machen? «An neuen sozialen Bewegungen und Protestformen lässt sich das Potenzial künstlerischer Praktiken gut beobachten. Sie sind erfolgreicher, wenn sie sich Verfahrensweisen aus den Künsten aneignen», so Gau.

Zurzeit analysiert er im Co-Teaching mit Antoine Chessex und mit Studierenden des Masters Transdisziplinarität, wie sich die Kreativität als Begleitphänomen des Kapitalismus im 20. Jahrhundert entwickelt hat: «Mit einer Kritik der Kreativität gehen wir der Frage nach, wie eine Praxis der widerständigen Kreativität aussehen könnte.» Gau entwickelt gemeinsam mit Studierenden neue Praxisformate oder verankert Unterrichtsprojekte in Kunstinstitutionen beziehungsweise an anderen Orten ausserhalb der Hochschule. «In meinem Verständnis lässt sich das Studium als eine permanente situative und gemeinsame Suchbewegung beschreiben», sagt Gau. «Es geht nicht in erster Linie um unverrückbare Endergebnisse, sondern um temporäre Verdichtungen und Neuzusammensetzungen.» Dieses Ziel verfolgt er auch im Studiengang Curatorial Studies: Er möchte kuratorische Praxis als eine dialogische, prozessuale und transdisziplinäre Handlungsweise vermitteln. «Eine Ausstellung ist ein Möglichkeitsraum für Wissensproduktion, Zusammenkünfte, Diskussionen, Produktionen und Distribution.»

Mehr Raum für Fabulationen

«Neuzusammensetzungen» dient auch als Stichwort, um Sønke Gaus Schwerpunktthemen für die kommenden Jahre zu fassen. «Beschleunigt durch die Black-Lives-Matter-Bewegung und den Klimawandel ist die Forderung nach Dekolonialisierung in den letzten Jahren immer lauter geworden und hat zu einer verstärkten Politisierung und Dezentralisierung des Westens geführt», so Gau. «Es geht jetzt um Entangled Histories, darum, andere Arten ‚Welt‘ zu denken: neue Anschlüsse zu finden, indem wir etwa dem Fabulativen und Spekulativen mehr Raum geben.»
Privat findet man Gau häufig an einem ganz bestimmten Ort. Nämlich im Zürcher Kreis 4, wo er seit 16 Jahren lebt und die Bäckeranlage zusammen mit seiner Partnerin, der Kulturwissenschaftlerin Verena Doerfler, und ihrer gemeinsamen fünfjährigen Tochter längst zum erweiterten Wohnzimmer erklärt hat.

Martina Egli (martina.egli@zhdk.ch) ist Kommunikationsverantwortliche des Departements Kulturanalysen und Vermittlung der ZHdK.
Jeweils am Montagabend sind Interessierte eingeladen, im Rahmen der Vortragsreihe «Positionen und Diskurse»– verankert im Programm des Masters Art Education und des Masters Transdisziplinarität – in aktuelle Diskurse einzutauchen. Gäste aus unterschiedlichen Gebieten der Künste und der Wissenschaften teilen ihre Perspektiven und laden dazu ein, diese gemeinsam zu diskutieren. Zusammen mit Sigrid Adorf und Basil Rogger leitet und moderiert Sønke Gau die Vorlesungsreihe, die im Frühlingssemester 2022 unter dem Titel «Übermorgen. Reclaiming, decolonizing, creating and curating futures» stehen wird.
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