Ganzherz

Für Martin Heller

Anno 1990: Martin Heller war Kurator und ab diesem Jahr Direktor des Museum für Gestaltung Zürich. Foto: Betty Fleck.

Anno 1990: Martin Heller war Kurator und ab diesem Jahr Direktor des Museum für Gestaltung Zürich. Foto: Betty Fleck.

Fast 15 Jahre, von 1986 bis 1999, arbeitete Martin Heller am Museum für Gestaltung Zürich. Als Kurator und Direktor des Museums hat er Dutzende Ausstellungen verantwortet und die Identität des Museums nachhaltig geprägt und weiterentwickelt. Am 22. Oktober ist er – wenige Tage vor seinem 69. Geburtstag – gestorben.

VON BASIL ROGGER

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Bildermensch

Martin Heller war ein Bildermensch. Wenn er Vorträge hielt, bestanden seine Präsentationen fast nur aus Bildern. Aus der Fotografie eines Sparschälers, eines Eierkartons oder einer Tunneleinfahrt entwickelte er die Welten und die Gedankengebäude, die er seinen Zuhörer:innen vermitteln wollte. Bilder waren nicht einfach Gedankenstützen, sie waren ihm Motor und Modell für seine Denkarbeit. Aus David Hammons’ «Bliz-aard Ball Sale» zum Beispiel leitete er die ganze Logik eines Museumsbetriebs ab, inklusive Kommunikations- und Betriebskonzept, Zielgruppendefinitionen usw. Eine katholische Monstranz diente ihm als Sinnbild für das Prinzip des Zeigens und des damit untrennbar verbundenen Verbergens schlechthin; anhand der Abbildung eines derartigen Objekts konnte er die ganze europäische Ausstellungsgeschichte aus dem Stand entwickeln. Nie waren Bilder für ihn einfach schön, einfach Dekor. Ihre Bedeutung, sein Verständnis und seine Aneignung davon und sein Verhältnis dazu waren immer zentral. Und ganz viele Bilder waren für ihn schlicht schlecht. So schlecht, dass es unumgänglich und lohnenswert zugleich war, sich damit auseinanderzusetzen. Seine Empörung über schlechte Bilder oder schlechte Grafik ist legendär, die dazugehörige Ausstellung «Die 99 schlechtesten Plakate» ebenso.

Textmensch

Martin Heller war ein Textmensch. Er hat zeitlebens geschrieben, viel geschrieben, old-school-cool, mit Stift auf Papier. Immer mit dem gleichen Architekten-Fineliner, der lieber Tusche gewesen wäre. E-Mails hat er zu Expo-Zeiten am Morgen ausgedruckt, unterwegs schriftlich auf Papier beantwortet und, wenn er abends zurück in die Direction artistique kam, getippt oder auch – ungern – tippen lassen. Immer waren seine Antworten durchdacht, sauber formuliert, behutsam und hartnäckig zugleich. Schreiben war ihm aber mehr als Kommunikation. Schreiben war Denkarbeit, gleich wichtig wie das Arbeiten an Ausstellungen oder Bildern. Nicht selten sind ihm Texte in Flaubert’scher Manier auf den Korrekturfahnen der ersten Fassungen zu gänzlich neuen Werken geronnen. Damit verbunden war ein Prozessverständnis, das sehr wohl die produktionsbedingten Deadlines kannte und respektierte, sie aber auch auszudehnen verstand. Und so bestand die Begleitarbeit an Martins Textproduktion nicht selten in der Besänftigung verzweifelter Redaktor:innen, die auf ihre Texte warteten. Und das war manches Mal auch wohlüberlegte Taktik. Denn eine späte Abgabe verhinderte, dass sich übereifrige Lektor:innen über fertige Texte hermachten.

Musikmensch

Martin Heller war ein Musikmensch. Ween. Erika Stucky. Ween. Talking Heads. Ween. Talvin Singh. Ween. Stephan Eicher. Ween. Björk. Ween. Tom Waits. Ween. Calexico. Ween. Rees Gwerder. Ween. Beck. Ween usw. So tönte es während der Expo. Zwar eher aus dem Autoradio. Unterwegs. Aber Musik war immer irgendwie präsent. An Weihnachten 2001 schenkte Martin allen Mitarbeitenden der Direction artistique eine CD, je individuell etwas, das er sich für die betreffende Person ausgedacht hatte. Ich bekam «Rien» des experimentellen Gitarristen Noël Akchoté auf Winter&Winter, eine präzise Wahl des Menschenkenners Martin Heller und ein Werk, das mich bis heute begleitet. Jahre danach lernte Martin in Linz den Akkordeonisten Hubert von Goisern kennen. Dessen «Linz-Europa-Tour 2007–2009» – auf einem Schiff von der Donauquelle in Deutschland über Österreich, Ungarn, Kroatien, Serbien, Bosnien, Rumänien und Bulgarien bis zur Mündung ins Schwarze Meer – war, ähnlich wie der Klub «Mondial» auf der Arteplage Yverdon, ein Projekt, das Martins Musikliebe, Musikverständnis und Musikhunger kongenial abbildete und ihn entsprechend bis zuletzt – bis zu Huberts Abschieds-Jodler im Zürcher Grossmünster bei der Abdankung – begleitete: Kultur als Begegnung, als Reibungsfläche, als Aushandlungsort von künstlerischen Praxen zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft und gleichzeitig Migration als unabdingbare Voraussetzung dafür, dass solche Begegnungen stattfinden können.

Ausstellungsmensch

Martin Heller war – natürlich – ein Ausstellungsmensch. 1986 begann er am damaligen Kunstgewerbemuseum der Stadt Zürich als Kurator zu arbeiten. Bereits ein Jahr später gelang ihm ein erster Wurf: «Herzblut. Populäre Gestaltung aus der Schweiz». Der Ethnologe in ihm, der sein Lizenziat über Kunst und Primitivismus geschrieben hatte, befragte Gestaltungspraxen, die ohne ihn wohl nie den Weg in ein Museum gefunden hätten und es auch heute noch – ein Dritteljahrhundert später – viel zu selten tun. Die Entfernung von den klassischen Themen, Medien und Präsentationsformen des Kunstgewerbemuseums brachte ihm nicht nur Freunde ein. Mit Ausstellungen wie «Anschläge. Plakatsprache in Zürich 1978–88», «Imitationen. Nachahmung und Modell», «Wichtige Bilder. Fotografie in der Schweiz», «Werbung ist für alle da», «Universal. Immer, überall, alles», «Dialog im Dunkeln» oder zuletzt «Die Schweizer Autobahn» beförderte er die zürcherische – und die schweizerische – Ausstellungsrealität elegant in die Postmoderne, die für ihn sehr viel war, aber nie ein «anything goes», sondern vielmehr das Gegenteil davon: ein genaues, präzises und hartnäckiges Fragen nach den neuen Bedingungen und Möglichkeiten des Zeigens und Sagens angesichts zerfliessender vermeintlicher Sicherheiten und Traditionen. Dass er mit einem solchen Zugang die Herausforderung der Expo nicht ausschlagen wollte, erscheint rückblickend klar. Der Entscheid, das Museum zu verlassen, fiel ihm jedoch unendlich schwer, denn nach beinahe 15 Jahren war das Museum für Gestaltung Zürich an einem Ort angelangt, von dem aus er bequem hätte in grössere, europäische Kontexte ausgreifen können. Aber die Landesausstellung, das Gespräch mit der und über die Nation, die erst noch zu findende, die ImagiNation, war ihm wichtiger.

Debattiermensch

Martin Heller war ein Debattiermensch. Ausstellungspraxis ohne eine diskursive Auseinandersetzung dazu war ihm suspekt. Das war bereits im Museum für Gestaltung Zürich so. Nicht nur die Ausstellungen und deren Begleitveranstaltungen, auch die von Jörg Huber und Alois Martin Müller initiierten und zeitweise gemeinsam mit Martin veranstalteten «Interventionen» im Vortragssaal des Museums zeugen davon. An der Expo konnte dieses Bedürfnis nach intellektueller Reibung nur nach innen gestillt werden. «Bilder bauen» hiess folgerichtig die kleine Tagung, die wir als Abschluss der Expo.02 in Biel von, mit und für die Ausstellungsmacher:innen veranstalteten. Wir wollten uns diese Tagung damals leisten, um wenigstens in Ansätzen in einen reflexiven Prozess über dieses Mammutprojekt zu gelangen, in dem wir für Reflexion fast nie Zeit fanden. Martin initiierte zudem die «Reflexpo»-Gruppe, in der sich Akteure der Direction artistique mit Ausstellungspartner:innen aus der Privatwirtschaft und der öffentlichen Hand zusammentaten, um über die Expo.02, den Ernstfall der Schweiz, nachdenken zu können. «Expo.02: überforderte Schweiz? Die Landesausstellung zwischen Wirtschaft, Politik und Kultur» war das Resultat davon. Martins spätere Reflexion über Öffentlichkeit nicht als mit Kunst zu möblierenden Raum, sondern als Ort der kulturellen und politischen Debatte äusserte sich in seinem Engagement für Projekte wie «Agent Provocateur» oder «Basislager».

Kein Machtmensch

Martin Heller war kein Machtmensch. Die Freiräume, die er selbst brauchte, um gut arbeiten zu können und glücklich zu sein, gab er auch anderen. Kontrolle gab es wenig, Moderation hingegen viel. Und Hartnäckigkeit auf der inhaltlichen Ebene. Management als Machtinstrument oder «Führungstechnik» interessierte ihn – bei aller Wichtigkeit im Kontext von Grossprojekten – nie. Wenn überhaupt, wollte er Prozesse verstehen, nicht beherrschen. Nicht ganz ohne Koketterie sagte er einmal, das einzige Buch über Management, das er je fertiggelesen habe, sei das «Postheroische Management» von Dirk Baecker – die Systemanalyse also und das Anti-How-To schlechthin. Management als Agent und Bestandteil der Ökonomisierung unseres gesamten Lebens hingegen interessierte ihn derart, dass er die Ausstellung «Wir Manager» zunächst ins Landesmuseum bringen wollte, bevor sie dann im Vögele Kulturzentrum in Pfäffikon ihren Ort fand. Ein – wie auch immer zu denkendes – Primat der Ökonomie hätte er nie akzeptiert. Wenn es ein Primat gab, dann war es dasjenige der Kultur, die er als Ethnologe aber immer als gemachte, gewordene und potenziell andere Kultur dachte.

Ambivalenzenmensch

Martin Heller war ein Ambivalenzenmensch. Er war Lehrer und Ethnologe, das heisst, er hatte ein Verständnis davon, dass Dinge manchmal richtig und falsch sein müssen. Viel mehr faszinierte ihn aber, dass alles interessant und alles immer anders sein kann. Aus dieser Spannung heraus war er grenzenlos neugierig und erfahrungshungrig. Produktive Verunsicherung war ihm lieb und vertraut. Er war Asket und Genussmensch, er arbeitete bis zum Umfallen und konnte trotzdem – oder gerade deswegen – aus tiefstem Herzen feiern und den nächsten Morgen darüber vergessen. Er liebte die – auch elitäre – Kunst ebenso wie das Triviale und Populäre; für die Expo erfand er dafür die wie ein Oxymoron anmutende Bezeichnung der «ambitionierten Popularität». Er war von tiefer Ernsthaftigkeit und anarchischem Humor, eine für ein Gegenüber bisweilen anstrengende Kombination, aber immer eine gute Grundlage, um auch in steile Gespräche einsteigen zu können. Er war Beweger und Bewegter. Er war Urheber und Ausführender. Und geteilte Autorschaften, in denen der Dünkel des Subjekts nicht einmal am Rande aufschien, waren ihm am liebsten. Gemeinsam mit Martin an Texten zu arbeiten, gehört gerade deswegen zu den schönsten Erlebnissen meiner Expo-Zeit. Er war reflektiert wagemutig, manchmal verwegen, aber nie unbesonnen. Oder wie es Stuart Hall formulierte: Sein «Pessimism of the Intellect, Optimism of the Heart» ermöglichte ihm immer wieder, das scheinbar Unmögliche zu sehen UND zu träumen – und es so Realität werden zu lassen.

Arbeitstier

Martin Heller war ein Arbeitstier. Ein Arbeitstag in der Direction artistique begann um sechs auf dem Perron im HB Zürich und setzte sich im Speisewagen fort. In Aarau, Olten, Solothurn und Biel stiegen weitere Exponauten zu, und wenn der Zug um acht in Neuchâtel ankam, waren die ersten vier Sitzungen schon abgehakt. Und meist endete ein solcher Arbeitstag in umgekehrter Abfolge nach Mitternacht wieder in Zürich. Oder in der Direction artistique: In Neuchâtel hatten wir eine Vierzimmerwohnung und einen Dachstock, wo man übernachten konnte. Die letzten, immer noch der Arbeit gewidmeten Gespräche fanden dort beim nachmitternächtlichen «Feierabendbier» in der Küche statt – und immer, wirklich immer fand Martin Zeit, auch diesen Austausch noch zu führen. Schon damals war mir unerklärlich, woher dieser Mensch seine nie endende Energie, seine gedankliche Präzision, seine Formulierungsschärfe nahm, die gleichzeitig immer so warm und menschlich nahe waren. Dabei beschränkte sich seine Ansprechbarkeit nicht auf seine Mitarbeiter:innen. Auch wenn er unterwegs war – vorzugsweise im Zug –, war er immer ansprechbar, liess sich stören von Unbekannten, die ihn auf das irrwitzige Expo-Projekt ansprachen, für das er damals in der Öffentlichkeit stand. Dann blickte er auf, lächelte, der Schalk blitzte aus seinen Augen, und er begann zu erklären. In einer Art, dass sich sein Gegenüber, wer immer das war, ernst genommen, verstanden und wichtig fühlte. Auch das gehörte zu seinem Verständnis von Arbeit: ansprechbar sein, erreichbar sein, zuhören, antworten.

Menschmensch

Martin Heller war ein Menschmensch. Wenn er allein sein wollte oder musste, etwa um konzentriert schreiben zu können, entschuldigte er sich dafür, fast als ob es sich nicht gehören würde, sich kurzzeitig der Gemeinschaft zu entziehen. Er war ein Coopérateur im besten Sinne des Wortes, arbeitete unglaublich gerne gemeinschaftlich – entsprechend lang ist die Liste der Ausstellungen, die er gemeinsam mit Partner:innen auf die Beine gestellt hat, bereits lange vor der Expo. Martin freute sich immer über Menschen, so auch über diejenigen, die nach so langer Vorarbeit im Mai 2002 die Expo.02 in ihren Besitz nahmen: die Besucher:innen. Jeden Tag war er auf einer der Arteplages, schaute, was funktionierte und was nicht, beobachtete, lachte, dachte nach – und blieb immer ansprechbar. Und er freute sich über jedes Echo, so etwa über die staunenden Worte eines Weinbauern aus dem Lavaux, der ihm schrieb, er hätte sich nicht vorstellen können, dass Wasser so unterschiedlich riechen oder schmecken könne wie Wein, aber jetzt, nachdem er in der Wasserbar, in der künstlichen Wolke hoch über Yverdon, Wasser aus aller Welt degustiert habe, sei ihm eine neue Welt aufgegangen. Solche Dinge vergass Martin nie und konnte sich noch Jahre später daran freuen. Seine grundsätzliche Welt- und Menschenzugeneigtheit war nie naiv, aber immer positiv. «Ganzherz» schrieb er oft vor seinen Namen am Ende von Briefen, E-Mails oder SMS. Und konnte er einen Anruf nicht entgegennehmen, sagte seine Combox-Stimme: «Tell me your secrets, after the beep.» Schade, dass er sie nicht mehr hören kann.

Basil Rogger (basil.rogger@zhdk.ch) arbeitete von Ende 2000 bis März 2003 in der Direction artistique der Expo.02 in Neuchâtel. Heute ist er Dozent an der ZHdK in der Fachrichtung Trends & Identity im Bachelor Design sowie im Master Kulturpublizistik und im Master Transdisziplinarität. Zudem leitet er die Geschäftsstelle des Dossier Veranstaltungen.
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