Was ist nur schwer ansprechbar? Was wird absichtlich übersehen? Was totgeschwiegen? Sieben Studierende haben sich mit dem Thema «Der Elefant im Raum» befasst, das sie zusammen mit Jugendlichen erarbeitet haben. Entstanden ist ein theaterpädagogisches Format in kollektiver Autor:innenschaft. Zett war an der Generalprobe an der Sihl dabei.
VON LEA DAHINDEN
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Popmusik, schummriges Licht, knallige Schutzmasken und luftige Joggingjacken: Sieben junge Menschen tanzen ausgelassen in der einen Hälfte eines Kreises, bewegen ihre Arme rhythmisch zur Musik, feuern sich gegenseitig mit motivierenden Zurufen an. In der anderen Hälfte herrscht Zurückhaltung. Etwas unsicher schaue ich mich um, Blickkontakt suchend. Da! Ihr geht es auch so wie mir. Ich bin eine der Teilnehmer:innen eines Spaziergangs, der an der Zürcher Gessnerallee, dem Ausbildungsort des Bachelors Theater, startet und dessen Ausgang uns noch vollig unbekannt ist. Die Tanzenden sind Theaterpädagogikstudierende, die uns an die Sihl mitnehmen werden. Und noch ehe wir so halbwegs mit den Turnübungen Schritt halten können, stoppt die Musik, die Tür öffnet sich und es geht los.
Nach DJ Bobo zu den Tampons
«Avanti, avanti» heisst der Spaziergang, der bei jeder Witterung stattfindet. Nebst wasserdichtem Schuhwerk brauchen wir dabei auch unsere Handys und Kopfhörer. Insgesamt sechs Audiodateien begleiten uns unterwegs, wobei wir immer mal wieder anhalten, um eine Performance anzuschauen: Vor dem City-Hallenbad tunken drei Frauen im Bademantel Tampons in ein Sektglas. An der Sihl paddeln sie uns in einem Schlauchboot entgegen, #metoo-Gedichte vortragend. Auf der gegenüberliegenden Seite des Ufers erspähe ich einen jungen Mann, der beeindruckende Moves zu DJ-Bobo-Musik zeigt, während uns beim Bahnhof Selnau Monologe zu Fragen des Seins oder Nichtseins ins Grübeln bringen. Und schliesslich geht es auch um ganz persönliche Tabus, die man in ein Mikrofon schreien und loswerden kann – oder ist gerade dies ein Tabubruch?
Tabus, der Elefant im Raum – darum ging es bei den Vorbereitungen, in deren Rahmen die Studierenden eng mit Jugendlichen zusammenarbeiteten. Im Vorfeld besuchten die Studierenden Schulklassen sowie einen Meitlitreff und befragten Teenager auf der Strasse. «Es ging sowas von ab!», erinnert sich Studentin Maxine Baumann, die eine solch rege Teilnahme und Offenheit der Jugendlichen nicht erwartet hatte. «In den Workshops ging es oft um Themen wie Sexualität, Leistungsdruck, nachhaltiges Leben, Peinlichkeit oder Veränderung im Körper. Nachdem zehnmal auf einem Post-it das Wort ‚Periode‘ gestanden hatte, war klar: Okay, damit arbeiten wir», erklärt Kommilitonin Olivia Stauffer.
Reibereien auf der Poesie-Kanzel
Bunt zusammengewürfelt wurden die sieben Bachelorstudierenden, die in ihrem Theaterpädagogikstudium unterschiedlich weit sind und teilweise zum ersten Mal miteinander arbeiteten. Vorgaben gab es wenige, nur der zeitliche Rahmen sollte eingehalten und die Zielgruppe «junges Publikum» angesprochen werden. «Ganz bewusst wollten die Studierenden herausfinden, wo die Jugendlichen andere Expertisen haben als sie selbst – und diesen eine öffentliche Bühne und ästhetische Form geben», sagt Ursula Jenni, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Praxisfeld Theaterpädagogik. Gerade der Ästhetik kommt bei der Inszenierung im freien Raum eine besondere Rolle zu: So wurde der Bahnhof Selnau Zürich zu einer Poesie-Kanzel oder der Holzsteg am Wasser zu einer Fanmeile. Das Modul, das im Curriculum fest verankert ist, fiel in die Corona-Zeit. Mit dem Entscheid, draussen zu spielen, schufen sich die Studierenden mehr Spielraum, um bei allfälligen pandemiebedingten Restriktionen nicht gleich das komplette Konzept über den Haufen werfen zu müssen. Student Gian-Andrea Colombo sieht darin eine Chance: «Wir wollen damit jenes junge Publikum ansprechen, das vielleicht nicht regelmassig ins Theater geht.»
Die Studierenden wechselten sich in Probeleitung, Regie und Koordination ab. Alles sehr harmonisch also? «Nein, nicht immer», tönt es unisono. Reibereien gehören dazu. Und doch: Im Kollektiv lassen sich grosse Themen besser anpacken als im Alleingang. Und zwischen Idee und Premiere stellen sich viele Fragen, die zu überraschenden Antworten führen. Oder wer hatte zu Beginn des Moduls gedacht, dass sich der Elefant im Raum am besten an der Sihl ansprechen lässt?