Wiedersehen

«Wiedersehen» – eine Kurzgeschichte als Dokument eines kollaborativen Schreibprozesses. Illustration: Luigi Olivadoti

VON OLIVER BRUNKO, SUSANNE HOFER, CHIARA ALISSA ESTIVARIZ LOPEZ, SARA LÜSCHER, DOMINIK ROGENMOSER, PASCALE SCHREIBMÜLLER, AVA SLAPPNIG UND JONAS WANDELER

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«Hey! Bist du okay?», sagt eine Stimme.
Vela öffnet die Augen.

«Hallo? Hörst du mich?»
Ein verschwommenes Gesicht schwebt über ihr.

Vela dreht ihren Kopf zur Seite. Sie atmet tief ein und aus.
Asphalt. Ihr Fahrrad auf der Strasse. Autos, die in Zeitlupe vorbeifahren.

In Velas Ohren brummt es.
Wieder die Stimme: «Komm, wir müssen von der Strasse runter.»

Zwei Hände helfen ihr auf.
«Hier, setz dich auf den Randstein.»

Vela zieht ihre Mütze vom Kopf und streicht sich über ihre schweissnasse Stirn.
«Du blutest!»
Ein stechender Schmerz schiesst ihr durch den Kopf.
«Ich hole Verbandsmaterial. Warte hier. Ich bin gleich zurück!»

Vela sieht die Person über die Strasse eilen und im Haus gegenüber verschwinden.

«Ich bin gleich zurück.»
Vier Wörter, jedes einzelne ein Stich in Velas Brust.

Schlagartig sind die Bilder wieder da: Sera, wie sie den Reissverschluss ihrer Jacke hochzieht und gleichzeitig in ihre Stiefel zu schlüpfen versucht. Wie sie dabei keine Sekunde vom Boden hochschaut. Wie sie sich den Schal über die Schulter wirft und beim Rausgehen ruft: «Ich bin gleich zurück!»
Dann das Quietschen der Gummisohlen im Flur und die Tür, die hinter ihr ins Schloss fällt.

Sera ist nicht zurückgekommen. Sera ist weg.

Immer wieder sucht Vela nach Zeichen. Nach Rissen. Nach Fehlern oder Kränkungen. Nach einem Plan, den Sera ihr vorenthalten hat.

Das Brummen in Velas Ohren nimmt ab, die eben noch so klaren Bilder der Erinnerung verblassen. Vela wischt sich die blutige Hand ab, stemmt sich hoch und hinkt über die Strasse zum Hauseingang.

Sie stösst die Tür auf und macht einen vorsichtigen Schritt in einen schummrig beleuchteten Hausflur. Durch die offene Zimmertür zu ihrer Rechten vernimmt sie ein leises Plätschern und hört zwei Stimmen.

«Ist deine Schwester heute da?»
«Nein, Mutter, da ist jemand mit dem Fahrrad gestürzt, sie braucht dringend meine Hilfe. Ich muss nur kurz …»
«Wie schön, beide Töchter wieder vereint! Komm, hilf mir aus dem Bad.»

Vela hält sich am Türrahmen fest und späht ins Badezimmer. Sie sieht eine alte Frau im Badeanzug mit Sonnenbrille auf dem Rand einer vollen Wanne sitzen.

«Gib mir ein Handtuch, Liebes. Holen wir sie auch in die Sonne zu uns!»
«Mutter, eine Radfahrerin ist draussen verletzt auf der Strasse, sie braucht jetzt meine Hilfe.»
«Ist sie direkt aus Berlin gekommen?»

Vela sieht zu, wie die Tochter der Mutter einen Bademantel umlegt und ihr vorsichtig vom Wannenrand auf die Beine hilft.

«Hör zu, Mutter. Ich muss nochmals raus. Es hat sich jemand verletzt und braucht meine Hilfe.»
«Hat sie das Flugzeug genommen?»
«Komm, ich bringe dich zum Küchenfenster, du kannst von dort aus zuschauen.»
«Hat sie sich denn die Hände gewaschen?», fragt die Mutter und nickt in die Richtung von Vela.

Ruckartig dreht die Tochter ihren Kopf zur Tür.

Vela lässt den Türrahmen los und hebt die Hände.
«Keine Angst», sagt sie, «ich bin’s nur.»

Diese Geschichte wurde im Kulturpublizistik-Projektseminar «Kollaboratives Schreiben» unter der Leitung von Dominic Oppliger (dominic.oppliger@zhdk.ch) von acht Studierenden der Masterstudiengänge Art Education und Transdisziplinarität vom ersten bis zum letzten Anführungszeichen im Kollektiv erarbeitet.
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