Renaissance: Fortschrittsmythos ohne Fortschritt

Visionär bis zum Tellerrand – ein Essay hinterfragt die Unsterblichkeit der Renaissance. Illustration Illustration: Julia Marti.

Visionär bis zum Tellerrand – ein Essay hinterfragt die Unsterblichkeit der Renaissance. Illustration: Julia Marti.

Die ewige Geschichte vom Neubeginn, liesse sie sich neu erzählen? Ist Greta Thunberg ein neuer David? Lassen sich Mythen im guten Sinn upcyceln? Sigrid Adorf, Professorin für Kunst- und Kulturanalysen, plädiert für eine andere Kolorierung.

VON SIGRID ADORF
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Einst herrschten finstere Zeiten: Dunkle, kalte Gemäuer, unbefestigte Wege, auf denen Fuhrwerke stecken blieben und geschundene Gäule sich abmühten; Nachttöpfe wurden über der engen Gasse geleert und der Hunger in der winzigen Stube mit ein paar Löffeln Suppe gestillt; Adels- und Kirchenleute straften willkürlich und zollten ihren Tribut; es herrschten Pest und Cholera, Lumpen und bittere Armut; Angst und Lust entzündeten sich an Scheiterhaufen, auf denen man Unliebsame und Andersgläubige verbrannte, nachdem man ihnen undenkliche Geständnisse aus dem Leib gepresst hatte.
Das Leben im Mittelalter war kalt, entbehrungsreich und dunkel, wie uns Kulissen, Kostüme und Lichtregie eindringlich lehren. Als Zeugen aufgerufen: Vitrinen mit Folterinstrumenten in unbeheizten Verliesen alter Burgen und Schlösser, die unsere Fantasie bis heute anregen.
Dann aber kamen Dürer, Erasmus, Fugger, Holbein, Kolumbus, Kopernikus, Machiavelli, Michelangelo, Morus, Raffael, da Vinci … Männer, die die alte Welt neu vermassen oder besser noch gleich die neue Welt entdeckten, die unerschrocken auszogen, um neue Wege zu finden, die grösser und schöner bauten als je zuvor und Bilder malten mit Perspektiven, die die Alten das Staunen lehrten, die anders dachten und sich trauten, ihre Vernunft für massgeblich zu erachten: gegen Gewohnheiten und manchmal auch gegen die Machthabenden. Sie hissten die Segel, richteten ihren Blick in die Ferne – visionär, entdeckungsfreudig, ehrgeizig, kreativ, voller Elan. Ein neuer Mythos war geboren: der Mythos vom Neuen, dem die Sagen von Odysseus, Prometheus und David wichtiger waren als Gleichnisse von Schuld und Sühne – Sachen für die Schwachen.

Was lange währt…

Die gute Nach(t)geschichte, die das aufgeklärte Abendland sich vom Wechsel seiner Zeiten zwischen Mittelalter und Renaissance erzählt, macht es sich einfach mit den binären Unterscheidungen von Hell und Dunkel und knüpft daran allerlei weitere Unterscheidungen zwischen männlich und weiblich, stark und schwach, produktiv und rezeptiv, kulturell und natürlich, vernünftig und emotional und so weiter. Fakt oder Fiktion? Die Idee des Neubeginns der Renaissance zeigt sich von Anfang an als ideologische Investition in einen Gründungsmythos der Moderne: den Fortschritt.
Die Namensgebung der epochalen Wende wird Giorgio Vasaris «Vite» (1550), Jules Michelet (1855) oder Jacob Burckhardt (1860) zugesprochen. Patentgeschichte der Namensgebung hin oder her (die Suche nach Urheberrecht ist selbst Kind der hier geschriebenen Geschichte): Was bleibt, ist die Vorstellung, dass um 1500 herum neue Zeiten anbrachen und dass wir ihnen den bleibenden Auftrag von Selbstbefreiung und Grösse, von Reformation, Revolution und technischem Fortschritt verdanken, der eine gerechtere Welt schaffen könnte. Auch wenn immer wieder darüber gestritten werden mag, wer nun gerade David und wer Goliath sei, das Erzählmuster greift: Michelangelo habe David in seinen fünf Metern Marmor erstmalig vor dem Kampf, als Geste gleichsam siegesgewisser Hoffnung, dargestellt, als neuen, Gott ebenbürtigen Menschen, wie die zweiteilige Bildungssendung «Renaissance» von «SRF mySchool» erklärt.

… wird endlich gut?

Greta Thunberg ein neuer David? Oder eine Jeanne d’Arc? Oder doch eine neue, andere Figur? Lassen sich Mythen im guten Sinn upcyceln? Es lohnt sich, die Verbindungslinien zu studieren. Das kulturwissenschaftliche
Projekt, das in der Kunstgeschichte untrennbar mit dem Namen Aby Warburg und dessen Renaissancestudien
verbunden ist, folgt seiner dekonstruierenden Suche nach den Energien zwischen den Bildformen über die Zeiten und Gattungsgrenzen hinweg – den Zusammenhängen zwischen wissenschaftlichen und populären Überzeugungen, die sich bildlich niedergeschlagen haben. Der Mythos wirkt nicht im Verborgenen, wie Roland Barthes erkannte, sondern im Offensichtlichen. Man kann im sogenannten Mittelalter Vorbereitungen dessen finden, was erst der Renaissance zugeschrieben wird, und umgekehrt der späteren Zeit nachweisen, wie «mittelalterlich» sie vorging. Was passiert, wenn wir den Kolumbus- Mythos um die noch immer zu wenig bekannten Fakten der Vernichtung von Millionen von Menschen und ihren Wissenskulturen ergänzen; wenn wir die Hexenpogrome nicht als Zeugnis des Mittelalters, sondern im Gegenteil als Schatten der Neuzeit erkennen; wenn wir «Geschichte gegen den Strich bürsten», wie Walter Benjamin es 1939 angesichts der drohenden Gefahr verlangte?

Im Internet tobt vor allem in den Kommentarspalten ein Bilderstreit, ein Bildungsstreit, der nicht sehr neu erscheint: Die Möglichkeit, Bilder in Schulen und anderen öffentlichen Räumen abzuhängen, weil sie etwa Kolonisatoren rühmen, wird als ikonoklastischer Rückschritt in die Barbarei verschrien und kann doch eben gerade deswegen wahrhaft fortschrittlich sein. Denn: «Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen», so Benjamin. «Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter.» Das gilt noch immer. So endet etwa «Die Welt» ihre Berichterstattung zum Bilderstreit um Kolumbus-Darstellungen von 1882/84 in den Hallen der University of Notre Dame (Indiana) damit, dass sie Grant Strobl, Jurastudent und bekennender Jungkonservativer, das letzte Wort überlässt. Er fürchtet, dass wir, wenn wir historische Darstellungen problematisieren, «an einen Punkt kommen, an dem es keine Errungenschaften mehr zu feiern gibt» – das aber wäre in der Tat neu und ein Fort-Schritt, der seinen Namen verdient, weil er die ewige Renaissance der White Supremacy beenden könnte.

Sigrid Adorf (sigrid.adorf@zhdk.ch) ist Professorin für Kunst- und Kulturanalysen im Master Art Education und Leiterin des Forschungsschwerpunkts Kulturanalysen in den Künsten an der ZHdK.
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