
Die Orgel im Toni-Areal ist wie jede Orgel ein Unikat. Für die perfekte Akustik ist sie speziell dem Saal angepasst worden. Foto: Regula Bearth
Die Orgel ist nicht nur von imposanter Grösse, auch ihr Bau ist extrem aufwendig und anspruchsvoll. Darum gilt sie als Königin der Instrumente. Doch die Orgel thront nicht mehr nur in der Kirche. Sogar Hollywood lässt ihre Pfeifen erklingen. Orgeldozent Tobias Willi erzählt von alten Klischees und neuen Paaren.
VON LEA INGBER
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Es blitzt und donnert, der Regen peitscht übers Deck. Die «Flying Dutchman» bahnt sich ihren Weg durch die gefährlichen Wellen. Davy Jones, Kapitän des Piratenschiffs, feuert seine Crew an. Dann zieht er sich in seine Kajüte zurück. Und spielt Orgel. Eine meterhohe, Rauch speiende, korallenbewachsene Orgel. Diese Szene spielt im Hollywood-Blockbuster «Fluch der Karibik 2». Das sakrale Instrument hat es aus den Kirchen in die Kinosäle geschafft.
Eigentlich dürfte es nicht verwundern, dass die Populärkultur Gefallen an der Orgel findet. Schliesslich vereint kein Instrument so viele Superlative wie sie. Jede Orgel ist einzigartig. Einige sind so klein wie ein Klavier, andere wiederum so hoch wie ein zweistöckiges Haus. Die grösste spielbare Orgel steht in einem Kaufhaus in Philadelphia, mit rund 28’500 Pfeifen auf sieben Stockwerke verteilt. Und kein Instrument schmettert seine Töne lauter als die Orgel. Den Guinness-Weltrekord als lautestes jemals gebautes Musikinstrument hält eine Orgel in Südkorea mit 138,4 Dezibel. Das entspricht in etwa dem Lärmpegel eines startenden Flugzeugs.
Eine Orgel steht nie einfach irgendwo. Ihrem Spitznamen «Königin» gebührend, wird ihr immer ein spezieller Ort zugewiesen. Traditionellerweise die Kirchenempore. Auch die ZHdK hat ihrer Orgel einen eigenen Raum gewidmet, er ist eine der Hauptattraktionen des Toni-Areals. Mit seinen schwarzen Wänden und Lichtreflexionen ist der Orgelsaal eine mystische Oase mitten im turbulenten Studienalltag.
Klänge mischen und würzen
Orgeldozent Tobias Willi ist seinem Instrument seit über 30 Jahren treu. «Mit einer Orgel hat man ein ganzes Orchester unter zwei Händen und zwei Füssen.» Klänge mischen, Klangfarben anderer Instrumente imitieren, bis zu acht Oktaven bespielen – alles kein Problem für die Königin. «Das ist wie in der Küche vor dem Gewürzregal: Orgelspieler können nach Lust und Laune kombinieren», sagt Willi.

Mit einer Orgel muss man Freundschaft schliessen, um gut auf ihr zu spielen – quasi eine temporäre Liebesbeziehung eingehen, sagt Tobias Willi. Foto: Regula Bearth.
Heutzutage wird die Orgel häufig sehr klischeehaft dargestellt. Davy Jones ist nicht der einzige Seemann, der orgelspielend die Weltmeere befährt. Als Vorlage diente Kapitän Nemo von Jules Verne, der in seinem Unterseebot «Nautilus» die Orgel erklingen lässt. Andere unheimliche Organisten sind das Phantom der Oper oder der mordende Dr. Phibes in seinem «Schreckenskabinett». Ein weiteres Beispiel: Im Comic «Yoko Tsuno et l’orgue du diable» aus dem Jahr 1972 dient eine riesige Orgel als Folterinstrument mit tödlich tiefen Frequenzen. Das Lieblingsinstrument raublustiger Piraten, kaltblütiger Mörder und sogar eine Foltermaschine – wieso ist die Orgel oft so düster konnotiert? Tobias Willi erklärt schmunzelnd: «Organistinnen und Organisten werden in der Populärkultur oft als neurotische bis psychopathische Einzelgänger dargestellt.» Die Orgel spiele man meist alleine, trotz ihrer imposanten Gestalt. «Das befeuert sicherlich das Bild des grössenwahnsinnigen Organisten, der eine Kathedrale erzittern lassen kann.»
Die Orgel erobert neue Sphären
«Immer weniger Menschen besuchen regelmässig einen Gottesdienst. Die Orgel ist vielen nicht mehr vertraut», sagt Willi. Darin sieht er aber auch Vorteile: «Wir haben dadurch Carte blanche, die Freiheit, auch Unerwartetes auszuprobieren.» Und davon machen die Organistinnen und Organisten regen Gebrauch. Orgel trifft modernes Ballett, Orgel trifft Saxofon, Orgel trifft Lyrik … Die Liste solch neuer Konstellationen wird immer länger. Denn diese ungewöhnlichen Paarungen kommen beim Publikum sehr gut an. Tobias Willi erlebt das jeweils, wenn er zu Stummfilmen live auf der Orgel improvisiert. «Dann merken die Leute, die Orgel macht nicht nur – wie mir einmal gesagt wurde – im Gottesdienst Krach, sondern es gibt tausend zarte Abstufungen.» Bei seiner längsten Vorführung spielte er zweieinhalb Stunden durch: «Das war ein ‚Chrampf‘. Aber als Organist kann man Emotionen auf eine ganz neue Ebene bringen.»