
Kurz vor dem Tapetenwechsel: Anna Gebert im Frühling 2020 in ihrer Wohnung in Trondheim. Foto: Leikny Havik Skjærseth
In ihrem bewegten Leben hat Anna Gebert gelernt, aus der Musik Sicherheit und Geborgenheit zu ziehen. Jetzt kommt sie als Hauptfachdozentin Violine an die ZHdK. Sie freut sich auf die «Kunstfabrik» Toni-Areal, wo alle Künste gemeinsam köcheln und sich inspirieren. Ein Porträt.
VON VALERIA HEINTGES
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Man glaubt es nicht. Aber Anna Gebert, die mit 14 Jahren Mitglied des Gustav Mahler Jugendorchesters und mit 18 Jahren des Mahler Chamber Orchestra wurde, Stipendiatin der Karajan-Stiftung der Berliner Philharmoniker war, mit einem Fulbright-Stipendium zwei Jahre in Bloomington, Indiana, studierte und über lange Jahre als Konzertmeisterin bei europäischen Orchestern arbeitete, Anna Gebert, die seit Sommer Hauptfachdozentin Violine an der ZHdK ist, diese Anna Gebert hat fast ein Leben lang an Bühnenangst gelitten. «Das Lampenfieber hat zeitweise meine Persönlichkeit zerstört.» Wer die 41-Jährige sieht, die kurzen Haare, die klaren Gesichtszüge und den breiten Mund, aus dem ein so offenes Lachen sprudelt, kann das kaum glauben.
Von Ängsten und Darmsaiten
Heute weiss sie: «Man muss lernen, die Angst zu umarmen, an ihr stark zu werden.» In ihrer Ausbildung waren psychische Probleme tabu. Das sei heute anders. «Pädagogin sein heisst auch Psychologin, Inspiratorin, Mentorin sein», umreisst sie ihr Lehrkonzept. Im Unterricht spricht sie offen über eigene Erfahrungen und hat damit vielen Studierenden geholfen, mit der Bühnenangst umzugehen.
Ebenso selbstverständlich gehören auch perfekte Übungstechniken, die erst die Seele der Musik zum Klingen bringen können, zu Geberts Unterricht – die historische Aufführungspraxis genauso wie zeitgenössische Werke. Zudem Körperbewusstsein, um Verletzungen vorzubeugen, und die Fähigkeit, sich selbst kritisch zuzuhören, um Schwächen zu erkennen. Sie habe fantastische Lehrer gehabt, sagt sie; sie nennt Magdalena Rezler in Freiburg im Breisgau, die Meisterklasse von Ana Chumachenco in München, Miriam Fried oder Stanley Ritchie in Bloomington. Ritchie eröffnete ihr mit dem Spiel auf der Barockvioline ein völlig neues Feld. «Eine Zeit lang habe ich nur noch auf Darmsaiten gespielt, so fasziniert war ich davon, die Unvollkommenheit zu spüren, andere Farben und Obertöne aus dem Instrument zu kitzeln.» Sie spielt bis heute in Barockorchestern, aber Gebert ist neugierig, beseelt davon, ständig Grenzen zu erweitern und Neues zu entdecken. «Ich will mich nicht einschränken. Es gibt viel zu viel Schönes, das sich auf Darmsaiten nicht spielen lässt.»
Musik hörte Anna Gebert schon im Mutterbauch. «Bei uns zu Hause hiess es immer: ‚Entweder man wird Musiker oder Müllmann.‘ Etwas anderes gab es nicht.» Lachend erzählt sie vom Onkel, der wirklich Müllmann und sehr glücklich wurde. Aber die anderen – alle Musiker. Der Vater Jerzy Gebert: Pianist. Die Mutter Grazyna Zeranska-Gebert: Geigerin. Bruder Alexander: Cellist.
Das Toni-Areal als brodelnde Kunstfabrik
Wie sehr ihr die Musik Sicherheit und Geborgenheit geboten hatte, verstand sie erst in der Rückschau. Sie wurde 1979 in Warschau geboren und zog mit der Familie schon ein Jahr später nach Finnland. 13 Jahre und acht Umzüge lang hiess es: «Wir gehen zurück.» – «Wir waren immer die Fremden in Finnland, lebten isoliert. Da wurde die Musik meine Sprache, mit der ich mich immer verständigen und Existenzielles zum Ausdruck bringen konnte.» Sie sprach diese Sprache in Kammermusikformationen, in Barock-, Sinfonie- und Opernorchestern. Sie entdeckte die Arbeit der Konzertmeisterin, arbeitete etwa vier Jahre als stellvertretende Konzertmeisterin beim Gürzenich-Orchester, dem Kölner Sinfonieorchester. Auf Bergtouren in der Weite Norwegens fand sie ein neues Glücksgefühl, verliebte sich in das Leben mit der Natur und in ihr. Sie zog nach Trondheim, wurde Dozentin am NTNU Department of Music und erste Konzertmeisterin beim Trondheim-Sinfonieorchester. Jetzt wechselt sie nach Zürich. Der Ruf der Stadt als Kunststadt, die Interdisziplinarität und das hohe Niveau der Studierenden, der Professorinnen und Professoren an der Kunsthochschule haben sie angezogen. «Im Toni-Areal ist man in einer Kunsthalle, einer Kunstfabrik», sagt sie beeindruckt. «Darin köcheln alle Künste gemeinsam, voneinander inspiriert und bereichert.» Sie kennt und schätzt ihre Kollegen Ilya Gringolts, Alexander Sitkovetsky und Sergey Malov seit gemeinsamen Auftritten beim Kuhmo-Kammermusik-Festival in Finnland. Sie reizt die Aufgabe, sich als Professorin eine Klasse aufzubauen und wieder «mitten in Europa» zu leben. «Die Barockmusik ist in Zürich auch gut vertreten. Das ist sicherlich kein Nachteil.»