Die Emotionen gehen hoch: Wenn Schauspiel- auf Hirnforschung trifft

Schauspielstudierende bespielen ihre Avatare. Foto: IPF

Man kann durchaus sagen: «It’s a match!» Denn bereits über 15 Jahre verbindet das Institute for the Performing Arts and Film (IPF) der ZHdK mit der Schweizerischen Epilepsie-Klinik eine Forschungspartnerschaft. Schauspiel und Neurologie: Was dieses «ungewöhnliche Paar» ausmacht und wie die gemeinsame Erforschung der Emotionen gar auf Welttournee führte, erzählen IPF-Leiter Anton Rey und der Medizinische Direktor der EPI-Klinik Zürich, Thomas Grunwald.

VON SOPHIE KÄSER

«Woher weisst du, dass ich wirklich ich bin? Ich könnte ein Avatar sein, mit Antons Stimme und Gesicht. Würdest du einen Unterschied merken?», fragt Dramaturg Anton Rey zu Beginn unseres Zoom-Gesprächs. Und schon sind wir mittendrin. Denn genau um solche Fragen – etwa wie unser Gehirn die Mimik von Schauspielern und deren Avataren verarbeitet – geht es im Forschungsprojekt «Actor and Avatar», das Anton Rey und Thomas Grunwald zum Zeitpunkt des Gesprächs gerade abschliessen. Erste Ergebnisse dürfen die Wissenschaftler schon verraten. Doch zunächst verraten sie, was Neurologie und Schauspiel vor 15 Jahren überhaupt zusammengebracht hat und sie heute noch umtreibt: Es sind die Emotionen.

«Die Epilepsiechirurgie interessiert sich für die Erforschung von Emotionen, weil wir das Gefühlsleben oder die soziale Kognition nicht durch eine Operation stören wollen», erklärt Neurologe Thomas Grunwald. Besonders oft wird in einer Hirnregion operiert, die in einem komplexen Zusammenspiel mit den Emotionen für die Gedächtnisbildung zuständig ist. «Je mehr wir darüber wissen, desto besser lässt sich Unheil vermeiden», so Grunwald. Als Forschungspartner braucht es Profis im Darstellen von Gefühlen. Wer würde sich da besser eignen als Schauspieler?

Doch so einfach waren diese nicht zu gewinnen: «Ich dachte anfangs: Was sollen wir mit Medizinern und Neurologie?», erinnert sich Rey amüsiert. Das genuine Erkenntnisinteresse verband schliesslich die Wissenschaftler und ihre unterschiedlichen Welten. Ihre Ausgangsfragen waren: Ist es möglich, dass Schauspielerinnen und Schauspieler entgegen neurowissenschaftlichen Theorien Gefühle «abrufen» und tatsächlich «fühlen» können? Und wenn ja: Wie lässt sich das messen? Um den neuronalen Grundlagen von Emotionen auf die Spur zu kommen, wagten sie ein Experiment.

Theater im Hirnscanner

Gemeinsam mit Neuropsychologe Hennric Jokeit boten Rey und Grunwald Schauspielstudierende sowie bekannte Schauspieler wie etwa Hanspeter Müller-Drossaart oder Stefan Kurt zum Vorsprechen im Hirnscanner auf. Diese trugen Texte einmal «kalt» vor, also emotionslos, und legten beim zweiten Mal volle Emotionen hinein. Würde sich mit der funktionellen Magnetresonanz-Tomografie (fMRI) ein Unterschied in der Hirnaktivität zeigen? Tatsächlich war dieser erstaunlich: Riefen die erfahrenen Schauspieler Gefühle ab, zeigten die emotionalen Zentren im Gehirn, die normalerweise dem bewussten Zugriff entzogen sind, eine deutliche Aktivität. Sprich: Profibühnenkünstlern gelingt es – im Gegensatz zu den Studierenden – Gefühle nicht nur zu erinnern, sondern auch wirklich zu fühlen. «Das war ein Heureka-Moment!», so Thomas Grunwald.

Mit Romeo und Julia um die Welt

Ihre Erkenntnisse führten die Wissenschaftler um die Welt. Sie wurden für Referate in die USA, nach Brasilien, Indien oder China eingeladen. Ihr Mix aus Theateraufführung und Vortrag begeisterte das Publikum weltweit: So liessen sie jeweils von einheimischen Schauspielern die Balkonszene aus «Romeo und Julia» proben – und debattierten dazu in unterhaltsamer Manier über dramatische versus medizinische Hintergründe der Emotionen. Schafften es die Romeos und Julias am Ende, die Zuschauer dank Aktivierung ihrer Gefühle mit ihrem Spiel zu berühren, freuten sich Rey und Grunwald: «Es geht uns schliesslich darum, die Kunst zu entmystifizieren, nicht sie zu entzaubern.»

Von menschlichen und künstlichen Wesen

Und nun, mehrere Publikationen und viele Auftritte später, also «Actor and Avatar». Beim vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierten Projekt ist neben Thomas Grunwald und Anton Rey auch Dieter Mersch mit von der Partie. Der Leiter des ehemaligen Instituts für Theorie der ZHdK setzt sich mit den philosophischen Aspekten des Themas auseinander. Demnächst erscheint ein Buch mit den gemeinsamen Forschungsergebnissen.

Eine der Hauptfragen ist: Auch wenn Avatare immer «echter» werden, gibt es Unterschiede zwischen dem Schauspieler und seinem Avatar, welche die Technik – egal wie fortgeschritten sie sein mag – nie wird aufholen können? So etwas wie Authentizität, die den Menschen unersetzbar macht? Um messen zu können, was im Hirn bei der Gesichtsverarbeitung eines Schauspielers und der seines Avatars passiert, brauche es wiederum die Neurologie, so Rey.

Ihr Interesse ist praktischer Natur: Mithilfe der Avatare soll die Verarbeitung emotionaler Mimik untersucht werden, um herauszufinden, welche Hirnregionen bei den Patienten funktionieren und welche nicht. «Die Gesichter der Avatare könnten wir auf Knopfdruck programmieren und in der Untersuchung ganz einfach einzelne Parameter verändern», erklärt Grunwald. Sie wären besser zu kontrollieren als Schauspieler. fMRI-Messungen zeigen jedoch: Einen Strich durch die Rechnung machen die Emotionen. «Es ist noch nicht ganz ausgewertet, aber alles spricht dafür, dass der erregte Gesichtsausdruck – wie Angst oder Frust – auf einem menschlichen Gesicht das Gehirn des Betrachters viel stärker aktiviert, als wenn sich dasselbe auf dem Gesicht seines Avatars abspielt.» Das bedeutet: In der Arbeit mit Patienten muss auch weiterhin auf Schauspieler zurückgegriffen werden, denn geht es um Emotionserkennung, scheinen menschliche Gesichter wirkungsvoller zu sein. Oder wie es der Medizinische Direktor sagt: «Avatare bringen’s nicht.»

Wieso dem so ist? Diese Antwort gilt es noch zu finden. Ein Glück, dass dem «ungewöhnlichen Paar» Schauspiel und Neurologie auch nach 15 Jahren gemeinsamen Forschens noch nicht langweilig geworden ist.

Anton Rey (links) vom Institute for the Performing Arts and Film und Thomas Grunwald von der Schweizerischen Epilepsie-Klinik beim Brain Forum an der EPFL. Foto: IPF

Sophie Käser (sophie.kaeser@zhdk.ch) ist Kommunikationsverantwortliche des Departements Darstellende Künste und Film der ZHdK.
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