Nachhaltiges Material gibt es nicht

 

Frau in Hocke

Growing Garments: inspirierende Stücke, die das Verhältnis zwischen Mensch und Natur reflektieren. Eine Diplomarbeit von Anouk Schädler, Trends & Identity. Foto: Anouk Schädler © ZHdK

Das ist doch nur ein Tropfen auf den heissen Stein – dieser Pessimismus des Denkens drängt sich auf, wenn es um Materialfragen im Design geht. Denn: Nachhaltige Materialien per se gibt es nicht. Vielmehr entscheidet ihre Nutzung, wie nachhaltig sie sind. Diese ist nicht einfach gegeben und kann deshalb verändert werden. Steter Tropfen höhlt den Stein. Ein Plädoyer für den Optimismus der Tat.

VON FRANZISKA MÜLLER-REISSMANN
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Sätze wie: «Nachhaltige Materialien sind zu bevorzugen», funktionieren weder im Allgemeinen noch im Konkreten. Was soll denn «nachhaltiger Kunststoff», was «nachhaltige Schafwolle» sein?

Nur der Umgang mit einem Material kann nachhaltig oder auch nicht sein. Ein Rohstoff kann einfach oder aufwendig gewonnen werden, seine Weiterverarbeitung mit dem Verwenden von Giftstoffen oder mit hohem Energieaufwand einhergehen. Es kann in wenigen, einfachen Verfahren ein Werkstoff entstehen oder in vielen, teuren. Dieser Prozess kann Tier- und Menschenleid nach sich ziehen. Der fertige Werkstoff kann schwer und sperrig sein, von weit her kommen, einen hohen Wartungsaufwand verlangen oder in seiner Entsorgung zum ernsten Umweltproblem werden.

«Rund um den Einsatz nachhaltiger Materialien ist im Designmarketing momentan eine problematische Augenwischerei zu beobachten.»

Recyclingfähigkeit, die in der Vermarktung von Materialien gerne und oft mit Nachhaltigkeit gleichgesetzt wird, ist von bestehenden Kreisläufen abhängig, die es im Materialbereich nur dort gibt, wo es sich wirtschaftlich rechnet. Bei Kunststoffen ist das eher die Ausnahme als die Regel. Das Label «-bar» (kompostier-bar, recycel-bar) reicht hier offenbar als Ausweis purer Möglichkeit fürs gute Gewissen.

Rund um den Einsatz nachhaltiger Materialien ist im Designmarketing momentan eine problematische Augenwischerei zu beobachten. Sie hat eine eigene Nachhaltigkeitsästhetik entstehen lassen, die über klare, einfach lesbare Codes verfügt: Biokunststoff = nachhaltig, veganes Leder = nachhaltige Alternative.

Doch der Einsatz eines Materials ist nicht in erster Linie sozialer oder ökologischer Sinnhaftigkeit unterworfen. Der Werkstoff muss einem Zweck dienen, technologische Bedingungen erfüllen, ästhetischen und gesellschaftlichen Anforderungen genügen, die sich stetig wandeln.

«Nicht mehr Material zu nutzen, als sich regeneriert, ist ein komplexes Vorhaben und ein unmögliches Unterfangen in unserer Massenkultur.»

Nachhaltig im wahren Sinn des Wortes zu sein ist nicht möglich, nur nachhaltiges Wirtschaften ergibt als Sprachkonstruktion einen Sinn. Da Wirtschaften eng mit der Kultur der Massenproduktion verwoben ist, die ihrerseits wiederum an eine moderne Identität gekoppelt und entsprechend schwer abzuschaffen ist, ist wenig Hoffnung angesagt. Denn nachhaltiges Wirtschaften kann es heute kaum geben. Etwas nachzutragen für die Zukunft, also im eigentlichen Wortsinn der Idee Nachhaltigkeit, nicht mehr zu nehmen, als sich regeneriert, ist ein komplexes Vorhaben und ein unmögliches Unterfangen in unserer Massenkultur.

Wenn es aber ums Eingreifen in die Welt geht, herrscht eine andere Perspektive auf das Thema Nachhaltigkeit und Material. Die eigene Zeit in einem bestimmten Lebensumfeld auf dieser Welt macht Handeln notwendig. Ohne den Optimismus der Tat im Lebensalltag hat dieser wenig Sinn.

Der Blick ins Designlabor lässt vieles möglich erscheinen: vollständig und sehr schnell kompostierbare Pilzmaterialien, die ohne zusätzlichen Energiebedarf von Organismen hergestellt werden und gegen Hightech-Kunststoffe bestehen können, oder 3D-gedruckte Keramikskulpturen, die – im Meer versenkt – Korallen einen Lebensraum bieten.

«Neben der Gestaltung mit einem sinnvollen Material erlaubt die Gestaltung des Materials selbst eine wichtige Weichenstellung hinsichtlich Nachhaltigkeit.»

Design hat hier viele Möglichkeiten. Neben der Gestaltung mit einem sinnvollen Material erlaubt die Gestaltung des Materials selbst eine wichtige Weichenstellung hinsichtlich Nachhaltigkeitsüberlegungen. Wie zur Zeit der Materialerfindungen von circa 1850 bis 1950 sehen wir uns heute wieder der Notwendigkeit gegenüber, neue Materialien für komplexe Lösungen zu finden. Wie damals sind auch heute schwindende Ressourcen ein bedrückendes und daher treibendes Motiv für Nachhaltigkeitsdenken und für Innovationen in der Gestaltung. Heute ist die apokalyptische Vorstellung eines nahenden Endes nicht mehr nur rein ökonomisch konnotiert, sondern man bangt zudem um humanistische und soziale Errungenschaften. Das einstige «Ach herrje! Es gibt ja gar nicht genug Elfenbein für alle!» (Folge: Erfindung von Kunststoffen wie Zelluloid und Bakelit) und die Holzknappheit vor der Industrialisierung (Folge: Erfindung des Koks zur Eisenverhüttung) werden zu: «Vorsicht! Wir richten tief greifenden, irreparablen Schaden an der Ökologie der Erde an.» (Folge: ?)

Eine gute Zeit für Design: dafür, neue und altbekannte Biopolymere zu synthetisieren, in Kreisläufen zu denken, zu experimentieren, zu reduzieren. Gesellschaftlich wirkt schlaues Materialdesign als Katalysator für Bewertungen und Haltungen und dient als Entscheidungsgrundlage für die Wahl von Verfahren und Prozessen. Hier liegt die Verpflichtung des nachhaltigen Gestaltens.

Franziska Müller-Reissmann (franziska.mueller-reissmann@zhdk.ch) ist verantwortlich für das Material-Archiv der ZHdK.
Das Material-Archiv basiert auf der Zusammenarbeit von Gewerbemuseum Winterthur, Sitterwerk St. Gallen, Hochschule Luzern, ETH Zürich, ZHAW, Hochschule der Künste Bern und ZHdK. Es umfasst verschiedene Materialsammlungen an den jeweiligen Standorten, die in Verbindung mit der als digitales Nachschlagewerk angelegten Onlinedatenbank einen breiten und fundierten Zugang zu Materialwissen bieten.

 

 

 

 

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