Ein Song ist nie fertig

Feilen an «Flares»: Sänger Silas Kutschmann und Tonmeister Yves Gerber bei der Arbeit. Foto: Johannes Dietschi ZHdK

Sie stürmen die Charts und bleiben im Ohr hängen: Popsongs kombinieren Rhythmus, Melodie und Text in oftmals leicht konsumierbarer Weise. Aber sind sie auch genauso leicht produzierbar? Sänger Silas Kutschmann und Tonmeister Yves Gerber erzählen, wie aus einer rohen Idee ein abgemischter Song entsteht.

VON LEA DAHINDEN

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Zürich, Kreis 2, ein Mehrfamilienhaus in der Nähe des Bahnhofs Enge. Es ist schon spät, in einzelnen Wohnungen gehen die Lichter aus. Aus dem Keller dringt leise Gitarrenmusik. Immer dieselben Akkorde in verschiedenen Variationen. Dazu eine Männerstimme: «Saw it in the movies», singt sie mal lauter, mal verspielter, mal bestimmter. «Saw it in the movies.» Silas Kutschmann, Student Master Musikpädagogik mit Schwerpunkt Pop an der ZHdK, lässt seinen Gedanken freien Lauf. Dazu braucht er nicht viel: Bandraum, Gitarre und am besten die Nacht. «Songs entstehen bei mir, wenn ich mich an ein Instrument setze mit einem Gefühl, das ich nicht in Worte fassen kann», erklärt der 28-Jährige. Die Absicht, aus dem Gefühl einen Song weiterzuspinnen, ist meistens da. Die Hoffnung immer.

Mit dem Handy im Flow bleiben

Jeder Song von Silas Kutschmann beginnt analog. Der Sänger folgt einem inneren Drang, das zu spielen, was er in sich spürt. Es ist ein vorsichtiges und verspieltes Herantasten. Mit der Gitarre oder auf dem Klavier findet er einen Groove. Später kommen die Wörter. Irgendwelche Wörter, manchmal reimen sie sich sogar. «Es fängt mit einem kleinen Funken an», beschreibt Silas die fast schon wundersame Entwicklung. Und mitten in diesem magischen Moment zückt Silas sein Handy. Nicht jedoch, um seine Nachrichten zu checken, sondern um seine Ideen mittels Sprachnotiz festzuhalten. Akkorde schreibt er nämlich nie auf. «Das Handy habe ich immer bei mir und es ist schnell im Einsatz. So fliesst die Kreativität.»

Zehn Tage später. «Saw it in the movies» singt Silas mittlerweile nicht mehr. «I’m shooting flares» lautet nun die Hookline. Er begleitet sich auf dem Klavier anstelle der Gitarre. Melodie und Struktur stehen, aber der Text sitzt noch nicht ganz. Silas, der in Äthiopien geboren und als Fünfjähriger in der Schweiz adoptiert worden ist, hat nie an der Sprache seiner Songs gezweifelt. Er lacht: «Wenn ich deutsch singen würde, könnten alle meinen St. Galler Dialekt hören.» Klar sei es ein Nachteil, nicht in der Muttersprache zu singen. Dazu komme der Anspruch, mit dem Text seine Persönlichkeit ausdrücken zu wollen. Inhaltlich entscheidet er sich meistens für dasselbe Thema: «Ich singe oft über die Liebe. Weil die direkt ins Herz geht und jeder eine eigene Geschichte dazu hat.»

Feilen an «Flares»

Zwei Monate später. Der Song hat jetzt einen Titel: «Flares». Doch viel mehr ist nicht passiert. Silas drückt sich vor dem Gang ins Tonstudio. Der Termin mit dem Tonmeister hat etwas Verbindliches. Weil dann entschieden wird, welches Soundkleid der Song erhalten soll. Auch die Intimität geht verloren. «Es wird mathematisch», entromantisiert Silas.

Von jetzt an arbeiten Sänger und Tonmeister gemeinsam weiter. In unserem Fall kennen sich die beiden: Yves Gerber, Masterstudent Tonmeister mit Schwerpunkt Pop an der ZHdK, hat für seine Bachelorarbeit einen Song für Silas geschrieben, den die zwei danach eingespielt haben. «Bei Popsongs kann sich ein Tonmeister am meisten beweisen», freut sich Yves über die Aufgabe. Dies, weil beim Pop, anders als beispielsweise beim Punk, das fertige Produkt so perfekt wie möglich klingen soll. Jeder Ton muss ganz genau sitzen, alle Instrumente sind fein säuberlich arrangiert. «Ein guter Tonmeister kann bis zu 20 Prozent mehr aus einem Song herausholen», schätzt Yves das Potenzial ein. Der 24-Jährige ist streng mit sich und seinem Team. Es kommt schon mal vor, dass er den Künstler bittet, den Text zu überarbeiten oder eine Zeile neu einzusingen. Man kann von einem Rollenwechsel sprechen, denn nun liegt die Verantwortung, so lange am Song zu feilen, bis alles stimmt, beim Tonmeister.

Songs filetieren im Tonstudio

Für Silas ist das Arrangieren eine Herausforderung: «Es fällt mir schwer, den Song auf ein Raster zu legen und ihn zu filetieren.» Gleichzeitig fällt es Yves leichter, an einem Song zu arbeiten, der in einer Rohversion vorliegt. Schwingt beim Sänger die Angst mit, der Song könnte nicht gut ankommen? «Ich bin nicht so zimperlich in Sachen Kritik», relativiert er. Hört Yves «Flares» zum ersten Mal, achtet er darauf, welche Gefühle das bei ihm auslöst. Da sind Fehler gar nicht so entscheidend. «Wichtig für mich ist zu spüren: Ja, ich will diesen Song wieder hören.»

Yves Arbeit lässt sich in drei Phasen einteilen: Aufnehmen, Bearbeiten, Mischen. Er will den Sound auf den Punkt bringen, die einzelnen Komponenten sollen wie Zahnrädchen ineinandergreifen. Die Musikerinnen und Musiker werden einzeln oder zusammen zum Einspielen eingeladen. Instrumente und Gesang werden so lange aufgenommen, bis der Tonmeister zufrieden ist. «Silas ist ein erfahrener Sänger, bei seinen Melodien muss ich kaum etwas korrigieren», gibt sich Yves zuversichtlich. Je besser er den Künstler kennt, desto mehr kann er aus einem Song herausholen. Es ist ein Prozess, bei dem Yves und Silas in engem Austausch stehen. Der Tonmeister spielt die aktuelle Mischung als MP3-Datei ab und der Künstler gibt sein Feedback. Beide sind froh, in dieser Phase auf den jeweils anderen zählen zu können.

Und wann ist ihre Arbeit getan? Selbst nach dem Release überlegen sie noch, was man hätte anders machen können. Unabhängig voneinander sagen beide: «Ein Song ist nie fertig.»

Der erste Groove von «Flares» von Silas Kutschmann ist hier zu hören:

Lea Dahinden ist Projektleiterin in der Hochschulkommunikation.

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