
Drei statt vier Beine oder eines davon ist zu kurz: Aldo Mozzinis Werke weichen bewusst von der Norm ab. Foto: Regula Bearth
Wer mit schmutzigen Lappen aus dem Unterricht an der ZHdK den Schweizer Kunstpreis gewinnt, versteht etwas vom Rohen. Aldo Mozzini lehrt im Bereich Art Education und sucht als Künstler nach dem Moment des Anspruchs- und Kompromisslosen. Ein Gespräch über das Rohe in seiner Kunst.
VON MARTINA EGLI
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Martina Egli: Aldo, deine Arbeiten werden gerne als «wackelig», «provisorisch» oder «unfertig» beschrieben. Siehst du das auch so?
Aldo Mozzini: Das Wackelige gefällt mir an und für sich nicht. Wenn ich zum Beispiel instabile Hocker baue, stellen sie für mich eigene Charaktere dar. Sie haben drei statt vier Beine – oder ein Bein ist etwas zu kurz. Ihr besonderes Wesen hat immer mit einer gewissen Abweichung zu tun: Durch ihre Beschaffenheit erlangen sie Selbstverständlichkeit, sie wirken trotzig.
Bringt deine Kunst etwas Rohes mit sich?
Das auf jeden Fall. Ich setzte mich in meinem Schaffen sehr oft mit Materialien auseinander, die eine Vorgeschichte haben und Spuren aufweisen. Genau das verstehe ich unter dem Rohen: Nicht was frisch gemacht wird und dies auch zeigt, sondern das, woran schon von Beginn an etwas mitwirkt, das es Dinge selbst erzählen lässt. Wir können es auch die Aura des Materials nennen.
Wie kommen Materialien zu dieser Aura?
Das ist eine gute Frage. Die gebrauchten, verschmierten Lappen aus den Tiefdruckkursen an der ZHdK habe ich seit dreissig Jahren gesammelt. Und ich versuchte immer wieder, aus diesen Lappen etwas zu machen. Ich nähte sie zusammen, leimte sie zusammen, baute Hütten, hängte sie wie Bilder an die Wand. Jedes Mal musste ich kapitulieren. Ich brauchte noch nie so lange, bis ich etwas daraus entwickeln konnte. Das hatte wohl damit zu tun, dass ich den Moment des Zeichens, wie ich sie hätte einbinden können, nie erreichte. Dann entstand aber die Idee zum Hund.
Wie bist du auf den Hund gekommen?
Ich habe keine besondere Beziehung zu Hunden, aber zu Bewegungen. Das Abstreichen der Hände ist für mich eine ähnliche Bewegung wie die des Streichelns eines Tieres. Beides macht man nicht bewusst, man streichelt und wischt nahezu automatisch. Hinzu kommt diese Geste des Absackens, eine Schlaffheit, eine Schwere. Die Erschöpfung ist ein Zustand, den jede und jeder kennt. Auch in der Kunst kommt man immer mal wieder an den Punkt, an dem man denkt: «Jetzt höre ich auf damit!» Als Nebeneffekt gefiel mir, dass der Körper des Hundes von meinem eigenen Konsum abhängig war. Denn die Lappen liegen auf meinem Plastikabfall, den ich über ein halbes Jahr hinweg gesammelt habe. Ich verstehe mich als bewussten Konsumenten und war überrascht, wie viel Plastikabfall ich produziere. Je mehr ich konsumiere, desto dicker wird auch das Tier. Klassische Füllmaterialien wie etwa Styropor würden nie zu dieser Wechselwirkung führen.
Du scheinst ein Sammler zu sein. Wie zeigt sich das in deinem Atelier?
Mein Lager besteht nicht aus Arbeiten, sondern nur aus Material. Ich schaffe etwas für eine gewisse Zeit, für einen bestimmten Raum, dann verschwindet es wieder. Meine dreidimensionalen Werke baue ich nach dem Ausstellen in einer Art auseinander, dass es sie gar nicht mehr gibt. Die Arbeiten existieren nur als Fotos beziehungsweise als dekonstruierte Einzelmaterialien, die irgendwann vielleicht in einem anderen Werk weiterleben werden.
Siehst du im Materiellen einen künstlerischen Gegenpol zum Digitalen?
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beobachten, wie sich das Taktile durch das Scrollen auf einem Display transformiert und dadurch etwa bei Kleinkindern andere Sensoren aktiviert werden. Ich bevorzuge es, eine Arbeit in den Raum zu stellen und sie dort wirken zu lassen: das Material, die Haptik, das absolut Unprätentiöse, das, was man durch die direkte Konfrontation erfährt. Was ist, wenn jemand ein Ausstellungsobjekt in die Hände nimmt und etwas daraus macht? Sagen wir es so: Es ist nie explizit erlaubt und nie explizit verboten.
Eröffnet das Rohe mehr Anschlussmöglichkeiten als etwa ein glatter, glänzender «Balloon Dog»?
Jeff Koons bewegt sich mit seiner Kunst mitten im System der Popkultur – ich finde seinen absoluten Kitsch toll. Gute Kunst zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen Schritt weitergeht als die Erwartungen: in die eine Richtung ist das die Übersteigerung wie etwa beim «Balloon Dog», in die andere das bewusste Nichtabschliessen.
Wie kommt eine solche Arbeit an den Punkt, an dem sie vollendet ist?
Beuys ging davon aus, dass das Werk dies selber äussern würde. Bei mir zeigt es sich im Prozess. Wenn ich zu «dökterlen» und «büscheln» beginne, bin ich bereits zu weit gegangen. Eine der grossen Herausforderungen besteht für mich darin, ein ungeschliffenes Resultat zu erreichen, obwohl ich technisch immer besser werde. Im Tiefdruckunterricht rate ich den Studierenden immer, den allerersten Entwurf auf der Suche nach der Form sauber zu drucken: Denn später kommen der Wille und die Ansprüche hinzu. Dieser Moment des Anspruchslosen ist die Basis, um mit den tausend Kompromissen umzugehen, die darauf folgen werden. Wer sich auf den Aushandlungsprozess einlässt und die Reibungen aushält, kann zu neuen Erkenntnissen gelangen.

Mit „Quasi Cane“ brachte Aldo Mozzini die Arbeitsinstrumente einer ganzen Unterrichtsepoche an die Swiss Art Awards: Hunderte Art-Education-Studierende hatten sich beim Tiefdruck ihre schwarzen Hände an den Lappen abgewischt, bevor diese Teil des prämierten Kunstwerks wurden. Foto: Markus Kummer