Sehnsucht nach dem, was auf irritierende Weise neu ist

Die konzentrierte Beschäftigung mit Musik markiert für viele das, was man als Sehnsucht beschreiben kann. Foto: © ZHdK

Musik jenseits des Geläufigen

In einer Welt, in der es fast ständig von allen Seiten klingt und tönt, ist die konzentrierte Beschäftigung mit Musik von besonderem Wert. Aber Musikerfahrung kann noch mehr sein als bloss eine Art Wellnesssituation oder ein Gegenmittel zum Alltagsstress. An der ZHdK soll unter anderem mit einem Symposium zu Lachenmann die Sehnsucht nach Unbekanntem stimuliert werden.

VON JÖRN PETER HIEKEL
___

«Wir hören nicht einfach Neues, sondern wir hören auf neue Weise und mit anderen Ohren, wir hören in diesem Sinne Unerhörtes», schreibt der Philosoph Bernhard Waldenfels, der kürzlich an der ZHdK zu Gast war. Es hat mit einer Sehnsucht nach besonderer Intensität zu tun, wenn Gegenwartsmusik mit einer gewissen Selbstverständlichkeit auf eine Tonsprache setzt, die sich dem Geläufigen und leicht Eingängigen bewusst entzieht. Damit ist auch der Horizont der Arbeit vieler Komponistinnen und Komponisten – nicht zuletzt der an der ZHdK lehrenden und studierenden – umrissen.

Dem kommerziellen Musikbetrieb wird seit Langem vorgeworfen, dass er durch die Wiederholung des Immergleichen gerade dieser Art von Sehnsucht viel zu wenig entspreche. Tatsächlich scheint in ihm der Aspekt der Wahrnehmungsschulung des Öftern vernachlässigt zu werden – zugunsten jener vordergründigen Form von Sehnsucht, die primär auf das Wiederbegegnen mit Bekanntem zielt. Anknüpfend an diese Einschätzung lässt sich sagen, dass die Ausbildung an einer Musikhochschule nicht zuletzt das Ziel verfolgt, jeder Art von Verflachung entgegenzuwirken und damit auch die Sehnsucht nach Unbekanntem zu stimulieren. Da die Studierenden von heute die Hauptakteurinnen und -akteure von morgen sind, geht es damit zumindest indirekt um Gegenimpulse zu allen Tendenzen der Normierung oder Verharmlosung innerhalb des Musiklebens.

Sehnsucht verlockt zu Hörabenteuern

Die Frage liegt nahe, in welcher Weise denn das hier Angedeutete mit jenem geläufigen Bild von Sehnsucht zusammenhängt, das sich besonders in der Zeit der Romantik ausprägte und uns an Dichter wie E.T.A. Hoffmann oder Joseph Eichendorff denken lässt. Kaum kann man die als Sehnsuchtsmotiv berühmte «blaue Blume» der Romantik mit der von Waldenfels skizzierten Haltung gleichsetzen. Die Kluft zwischen beiden hat jedoch mit vielen Vergröberungen zu tun, die den Umgang mit vielen romantischen Werken präg(t)en. Denn schaut man genauer hin, zielt die Sehnsucht auf eine «poetische» Idee von Musik, wie sie etwa der Urromantiker Robert Schumann forderte, auf etwas bis heute Wichtiges: nämlich auf die Verlockung zu echten Hörabenteuern. Sie meint also keineswegs das wohlige Versinken in Altbekanntem. Umso mehr ist es an der Zeit, sogar auch die Sehnsuchtshaltung des Romantischen gewissermassen freizulegen, sie also von jenen kitschigen oder vordergründigen Zutaten und Entstellungen zu trennen, die ihr im Laufe der Jahrhunderte in manchen simplifizierenden Teilen des Kulturbetriebs aufgebürdet wurden. Dies gelingt dann, wenn man Musik dieser Zeit mit Hörabenteuern der Gegenwartsmusik konfrontiert – mit Werken von Komponistinnen und Komponisten, die mit Schumann und manchen anderen bedeutenden Persönlichkeiten seiner Zeit geistesverwandt sind.

Symposium mit Lachenmann: Schwerpunkt an der ZHdK

Helmut Lachenmanns Musik, die weit über Europa hinaus zu den prägenden Positionen der Gegenwartsmusik gezählt werden kann, wurde in Sinfoniekonzerten schon häufiger sinnfällig mit jener von Robert Schumann kombiniert, unlängst von Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern. Eines von Lachenmanns zentralen Stücken trägt den Titel «‚Zwei Gefühle …‘. Musik mit Leonardo». Es fand später Eingang in Lachenmanns wohl bekanntestes Werk, die Oper «Das Mädchen mit den Schwefelhölzern». Sie ist auch inhaltlich ein höchst eindrucksvoller Beitrag zum Thema Sehnsucht. Dieses Stück, das bereits in Musikmetropolen Europas, Amerikas und Asiens zu hören war, steht von Oktober 2019 an in Zürich auf dem Spielplan. Um diese Musiktheateraufführung herum hat das Departement Musik der ZHdK gemeinsam mit dem Opernhaus Zürich ein kleines Lachenmann-Festival mit drei Konzerten und einem international besetzten Symposium organisiert.

Mit Fragen der Sehnsucht hat dieses Projekt, das mit „Was darin an Wunderbarem sein mag …“ überschrieben ist, viel zu tun. Denn gerade Lachenmanns Tonsprache navigiert immer wieder im Grenzbereich von Vertrautem und Unvertrautem. Enorme Klangentfaltungen stehen plötzlichen Reflexionsmomenten gegenüber, fast unvermittelt schlagen Andeutungen gewohnter Gesten, Akkorde oder Melodien in überraschende Suchbewegungen um. Die «Musik mit Leonardo …» entfaltet dies auf der Basis eines programmatischen Textes Leonardo da Vincis, dessen 500. Todestag dieses Jahr gefeiert wird. Seine Erzählung, der das Zürcher Veranstaltungsmotto entstammt, illustriert die Anstrengung, die der Staunende unternimmt, um etwas zu erkennen. Sie ist Ausdruck einer Sehnsucht nach dem, was auf irritierende Weise neu ist. Massgeblich für Lachenmanns Ansatz ist, dass seine Musik der durch Leonardos Denken verkörperten Entdeckerfreude entspricht, also gleichsam selbst eine Suchbewegung vollführt. Mit wechselnden Mitteln ruft sie zu Hörentdeckungsreisen auf. Diesen eingeschrieben ist die Aufforderung an Ausführende wie Hörende, über das Empfinden des bloss Verblüffenden, Kuriosen deutlich hinauszugehen. «Was einst nur angestaunt ward, wird schliesslich mit dem Geist erfasst», schrieb Johann Gottfried Herder im späten 18. Jahrhundert. Gegenwartsmusik wie jene von Lachenmann hat viel mit dieser Art von Sehnsucht zu tun, die bei solchem Erfassen mit dem Geist wohl stets mit im Spiel ist.

Das Departement Musik der ZHdK organisiert gemeinsam mit Opernhaus Zürich vom 7. bis 9. November 2019 einen umfassenden Lachenmann-Schwerpunkt, an dem der Komponist selbst auch beteiligt sein wird. In einem Symposium und drei Konzerten (unter anderem mit dem Ensemble Arc-en-Ciel) werden einige seiner zentralen Werke vorgestellt und im Zusammenwirken mit namhaften Referenten und Referentinnen deren Resonanzen aufgezeigt.
zhdk.ch/veranstaltung/40046
zhdk.ch/veranstaltung/40078
zhdk.ch/veranstaltung/40201

Jörn Peter Hiekel (joern_peter.hiekel@zhdk.ch) ist Dozent für Musikgeschichte, leitet mehrere Forschungsprojekte und gehört zum Team des Studios für zeitgenössische Musik an der ZHdK.
Teile diesen Beitrag: