
Normalität ist immer ein Konstrukt. Theodor K. (1875–1941), ohne Titel, Schiff mit Entenkopf, ca. 1940, Holzkonstruktion. Foto: Sammlung Königsfelden, Inv. Nr. 389, PDAG, Windisch
Im Unterrichtsprojekt «Atelier inklusiv» des Bachelorstudiengangs Art Education arbeiten Studierende während eines Semesters gemeinsam mit Menschen mit besonderen Voraussetzungen. Die Dozentin Katrin Luchsinger erzählt, wie sie ihre Forschung zu Werken psychisch Kranker in die Lehre einfliessen lässt.
VON MIRJAM STEINER
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Mirjam Steiner: Du erforschst seit mehr als einem Jahrzehnt Werke, die in psychiatrischen Einrichtungen in der Schweiz entstanden sind. Im Frühlingssemester wirst du ein Unterrichtsprojekt durchführen, das an deine Forschung anschliesst. Was gab den Anstoss dazu und was ist das Ziel des Moduls?
Katrin Luchsinger: «Atelier inklusiv» hat den Transfer von Forschung in die Lehre zum Inhalt. Das Unterrichtsprojekt gehört zur Ausstellung «Extraordinaire! Unbekannte Werke aus psychiatrischen Einrichtungen in der Schweiz um 1900», die bis 19. Mai 2019 im Kunstmuseum Thun zu sehen ist. Im Unterricht nehmen wir den aktuellen Aspekt der Inklusion auf und fragen uns: Was geschieht, wenn in unserem Umfeld «Normalität» geformt, sozusagen «modelliert» wird? Und was passiert, wenn wir zum Beispiel Menschen mit Beeinträchtigungen an diesem Prozess des «Modellierens» teilhaben lassen? In diesem Kontext ist das Projekt entstanden. Wir beziehen Menschen mit Beeinträchtigungen ein, die in Kreativateliers arbeiten. Wir haben uns lange überlegt, wie diese an unserer Forschung und der Ausstellung teilhaben könnten. Wir haben viele Ideen verworfen, weil sie auf Sprache basieren, und sind zum Schluss gekommen, dass Erfahrungen möglich gemacht werden müssen, und zwar in beide Richtungen: Einerseits erfahren wir und die Studierenden, was ein betreutes Atelier Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die künstlerisch tätig sind, zu bieten hat, andererseits erhalten die Klientinnen und Klienten des Ateliers Einblicke in die Arbeitsweisen an der ZHdK. Deshalb der Ateliertausch. Er soll Begegnungen ermöglichen.
Die Studierenden verlassen ihre gewohnte Arbeitsumgebung. Wie bereiten sie sich auf den Ateliertausch vor und wie soll es weitergehen?
Wir starten das Modul mit dem Besuch von vier Kreativateliers. Diese Treffen ermöglichen eine erste Begegnung mit den Kunstschaffenden, und unsere Studierenden erhalten Einblick in die Produktionsbedingungen vor Ort: Sie erfahren, welche Materialien und Farben verwendet werden, wie die Platzverhältnisse sind und welche Einschränkungen gelten. Beim darauffolgenden zehnwöchigen Ateliertausch geht es dann darum, ein mentoriertes Projekt zu entwickeln. Die Studierenden sind in der Wahl ihres Projekts frei und sollen sich von der Umgebung inspirieren lassen. Eine Zusammenarbeit wird nicht verlangt, kann sich aber aus gemeinsamen Interessen ergeben.
Im Kooperationsprojekt haben beide Seiten die Möglichkeit, viel voneinander zu lernen. Was werden deiner Meinung nach die Studierenden aus diesem Projekt mitnehmen?
Menschen mit Beeinträchtigungen haben beispielsweise viel Zeit oder ein anderes Verhältnis zu Effizienz, Output, Erfolg oder Selbstkritik als wir. Manche haben ein komplett anderes Vorstellungsvermögen, als wir dies erwarten. Einzelne sind introvertiert, viele sehr hilfsbereit, andere sehr ordnungsliebend und manche kommunikativ. Diese neue Umgebung, so denken wir, ist inspirierend. Die Klientinnen und Klienten gehen oft ganz anders mit Sprache um, als wir uns dies gewohnt sind. Es ist wichtig, wie etwas gesagt wird, damit es verstanden wird. Dieser andere Umgang mit Sprache kann für unsere Studierenden sehr fruchtbar für ihre Vermittlertätigkeit sein. Es geht in diesem Projekt auch darum, die Vermittlungskompetenzen zu schärfen.
Das Kooperationsprojekt wird filmisch festgehalten. Was passiert mit dem Material?
Studierende des Bachelors Film dokumentieren das Unterrichtsmodul und die Reflexionen, die anlässlich von Zwischenpräsentationen stattfinden. Wir werden den Film am 10. Mai 2019 an der Tagung «Rohe Kunst? Kunst ausserhalb des Kunstbetriebs», einer Begleitveranstaltung zur Ausstellung im Kunstmuseum Thun, zeigen. Dies soll eine Würdigung der geleisteten Arbeit sein, und es geht mir zudem darum, zu überlegen, wie wir die Tagung gestalten können, damit sich auch Menschen mit Beeinträchtigungen willkommen fühlen. Eines der Ziele ist, einen Ablauf zu schaffen, der nicht nur sprachliche Formate vorsieht, sondern auch Programmpunkte beinhaltet, die mit anderen Modalitäten arbeiten, in denen zum Beispiel Töne oder Gerüche wichtiger sind. Diesen werden wir gemeinsam im Unterrichtsprojekt entwickeln. Das interessiert mich sehr und ich freue mich darauf.
blog.zhdk.ch/bewahrenbesondererkulturgueter
9. Februar bis 19. Mai 2019
Dienstag–Sonntag 10–17 Uhr, Mittwoch 10–19 Uhr
Kunstmuseum Thun, Thunerhof, Hofstettenstrasse 14, Thun
Die Vernissage findet am 8. Februar, um 18.30 Uhr statt.
«Extraordinaire!» wird vom Schweizerischen Nationalfonds SNF und von Pro Helvetia unterstützt.
Freitag, 10. Mai 2019, 9.30–19 Uhr
Museum für Gestaltung Zürich, Ausstellungsstrasse 60, Vortragssaal, Zürich
Anmeldung und Programm