Dozierendenporträt: Jörg Scheller

Jörg Schellers Leidenschaft: die Kombination von Kunsttheorie, Körperkultur und lauter Rockmusik. Foto: Betty Fleck © ZHdK
Er lebt in Schnellzügen und natürlich auch in seinem Körper: der Dozent, Kunstwissenschaftler, Journalist, Bodybuilder und Musiker Jörg Scheller. Ein Porträt.
VON FRANZISKA NYFFENEGGER
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Eben noch war er mit ZHdK-Studierenden auf Exkursion in Abchasien, dann als Redner an einer Tagung in Porto; kurz zuvor hat er im Toni-Areal eine Lesegruppe geleitet, eine Vorlesung gehalten, zwei Diplomprojekte mentoriert und an fünf Strategie-, Reform- und Planungssitzungen teilgenommen. Morgen wird er Interessierten in Bern auf einem Feierabendspaziergang «Schöne Kunst» zeigen, übermorgen in der TV-Sendung «Sternstunde der Nacht» erklären, was es mit dem zeitgenössischen Körperkult auf sich hat. Parallel dazu moderiert er den ZHdK-Hochschultag, arbeitet an der ZHdK-Konferenz «The Perfumative: Parfüm in Kunst und Design» mit, schreibt einen Essay zum Begriff des Konservativen für die «Neue Zürcher Zeitung», antwortet zeitnah auf E-Mail-Anfragen aus aller Welt und findet dazwischen noch freie Momente, um Hanteln zu stemmen und auf Twitter die deutsche Politik zu kommentieren.
Jörg Scheller, der promovierte Kunsthistoriker und passionierte Bodybuilder, lässt seine Muskeln in vielen Krafträumen spielen. Die obige Aufzählung ist bei weitem nicht komplett. Da fehlen zum Beispiel sein Engagement im weltweit mutmasslich einzigartigen Heavy-Metal-Lieferservice, dem Duo «Malmzeit», oder seine Tätigkeit als Ausstellungskurator und Buchautor. Auf die Frage, wie viele Stunden sein Tag habe, antwortet er mit der ihm eigenen Lakonie: «Nach 24 Stunden bin ich leider an eine mir unerklärliche Grenze gestossen. Ich arbeite aber dran.» Und ergänzt: «Müde macht mich eigentlich nur der Umgang mit Menschen, die das Leben als Einstimmung auf das, was danach kommen soll, missverstehen.»
Teilnehmender Beobachter und fragender Forscher
Ein spätsommerlicher Vormittag in einem Seminarraum im sechsten Stock des Toni-Areals: Zwölf Studierende, meist schwarz gekleidet und in schweren schwarzen Schuhen, analysieren im Rahmen eines Z-Moduls die Videos bekannter Heavy-Metal-Bands. Jörg Scheller und sein Co-Dozent Dennis Basecke-Beltrametti ergänzen die studentischen Beobachtungen, scharf, präzise und absolut ernsthaft. Was den einen sinnloser Lärm scheint, kommt hier als popkulturelles Phänomen auf den semiotischen Seziertisch. Takt für Takt zeigt der Musikwissenschaftler Basecke-Beltrametti auf, wie die Band Töne und Rhythmen einsetzt. Scheller fügt Kommentare aus einer kunstkritischen Perspektive an. Von visuellem Exzess ist die Rede und von barockem Übermass an Zeichen, die alle auf Tod, Liebe, Weltherrschaft und Apokalypse verweisen. Heavy Metal, erläutert Scheller, bewege sich im Spannungsfeld zwischen Kulturpessimismus und Selbstermächtigung: «Die Musik sagt immer: ‹Aber!›» Nie gehe es um Kleinkram, immer um die grossen Themen, die ganz grossen: «You can do anything in metal, as long as it’s heavy.»
Die Kombination von Kunsttheorie, Körperkultur und lauter Rockmusik ist – so könnte man etwas bösartig sagen – das Alleinstellungsmerkmal Jörg Schellers. Als Experte gilt er wegen seines Fachwissens, aber auch weil er Theorie und Praxis permanent gegeneinander antreten lässt. Er denkt über Bodybuilding und Heavy Metal nicht nur nach, sondern praktiziert auch beides. Er doziert nicht nur über die «Geschichte der erweiterten Kunst», sondern trägt als Kurator und Kritiker selbst zu einer «erweiterten Kunstgeschichte» bei. In den Feldern, die ihn interessieren, bewegt er sich als teilnehmender Beobachter und fragender Forscher. So überrascht es wenig, dass eine von ihm organisierte Veranstaltungsreihe den Titel «Kunstgeschichte als Ethnografie» trägt.
Sich selbst bezeichnet Jörg Scheller als progressiven Konservativen: «Ich mag es, langfristig zu denken. Mir liegen Mischkultur und Fruchtfolge.» Davon profitiert an der ZHdK insbesondere das Departement Kunst & Medien, in dem er seit 2016 den Bereich Theorie im Bachelorprogramm leitet. Daneben engagiert er sich unter anderem in der Kommission Teaching & Learning, die Angebote für die interne Weiterbildung entwickelt. Was interessiert einen wie ihn, der fröhlich als freier Publizist ohne institutionelle Enge und Sitzungszwang leben könnte, an der Hochschultätigkeit? Erstens, antwortet er, dass man Politik betreiben, Dinge aushandeln und sich mit divergierenden Interessen auseinandersetzen müsse, und zweitens, dass er als Dozent mit der Heterogenität der Studierenden konfrontiert werde: «Nichts ist selbstverständlich, und damit ist auch kein hegemonialer Diskurs möglich.»
Rückzug in die Öffentlichkeit
Vielleicht ist es auch das, was ihn vor knapp zwei Jahren bewogen hat, auf Twitter mitzureden: die Vielfalt der Meinungen, die Offenheit der Diskurse, die Präsenz der Differenz. Sein Account @joergscheller1 steht unter dem Motto: «Das Private ist mir zu politisch geworden. Ich ziehe mich in die Öffentlichkeit zurück.»
Scheller verlinkt Veranstaltungstipps und Lektürehinweise, veröffentlicht Zitate aus Philosophie- und Kulturgeschichte und kommentiert politische Debatten. Seine Tweets zeigen, wie schnell und scharf er denkt. Vor allem aber zeigen sie seinen Witz und seine Fähigkeit zur Selbstironie: «Wenn ich mal eine Autobiografie verfassen sollte, wird sie wohl aus einem einzigen Satz bestehen: Ich kommunizierte mit so vielen Menschen so intensiv darüber, was getan werden müsste, dass weder sie noch ich Zeit fanden, es zu tun» (Tweet vom 19. Oktober 2018).