Handwerk als dritter Raum

Handwerk bewegt sich nach Jörg Scheller auf einem Kontinuum zwischen mechanisch-repetitiven und schöpferischen Tätigkeiten. Installation GaiaMotherTree von Ernesto Neto im Hauptbahnhof Zürich. Fotos: Regula Bearth © ZHdK

Der Begriff des Handwerks wird vielfach mit nostalgischen Vorstellungen und Werkstattromantik verbunden. In progressivistischen Kreisen wird ihm seine fehlende kritische Sprengkraft angelastet. Diese Verkürzungen werden der Komplexität dessen, was Handwerk ist, jedoch nicht gerecht: Im Handwerk verbinden sich Kreativität und Produktivität. Hilfreich zum Verständnis des Begriffs ist das Denken des Philosophen John Dewey. Ein Essay.

VON JÖRG SCHELLER
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Handwerk hat einen schweren Stand. In Zeiten von Upcycling, Fortschrittsskepsis und Nostalgie wird es nachgerade mystisch überhöht. «Handwerk» – der Begriff evoziert alsogleich Bilder von milde lächelnd ihre Laubsägen durch Vollholztafeln navigierenden Grossvätern. Güldenes Licht fällt durch die halb geöffnete Eichenholztür einer urigen Werkstatt, in der dem Enkelchen ein Balsakrokodil, der Enkelin ein Balsaprinzesschen verfertigt wird. Draussen erstreckt sich eine bukolische Landschaft, voll heiterer Trauerweiden und pummeliger Shetlandponys. «Handwerk», das ist heile Welt und gute alte Zeit.

Entsprechend haftet dem Handwerk in progressivistisch gestimmten Künstler- und Akademikerkreisen der Ruf des Gestrigen, Staubigen, Politik-, Theorie- und Kunstfernen an. «Handwerk» – das hat ein paar Nullen und Einsen zu wenig, das tönt so gar nicht digital, ja entsetzlich analog! Sägemehl statt «Sophisticated Concept», Schmirgelei statt Revolution, behäbiges Gebastel statt dringlicher Weltenrettung qua Kunst. Handwerk gebricht es, so betrachtet, an utopischer Wucht.

Zwischen Sklaven und freien Bürgern

Tatsächlich ist Handwerk eine weitaus vertracktere Tätigkeit, als dies die hier minimalst überzeichneten Extremvorstellungen suggerieren. Handwerk ist weder nostalgische Betätigung, wie in Werbung und Marketing suggeriert wird, noch biedere Bastelei. Vielmehr öffnet Handwerk einen dritten Raum zwischen mechanisch-repetitiven und künstlerisch-intellektuellen Tätigkeiten, einen Raum, in dem sich «Praxis» (das selbstreferenziell-selbstgenügsame Handeln) und «Poiesis» (das zweckgebunden-zielgerichtete Handeln) wechselseitig durchdringen. Handwerk ist, wo Herstellen und Vorstellen, Kreativität und Produktivität, Selbstreferenz und externer Nutzen – nun ja – Hand in Hand gehen. Diese mittlere Position des Handwerks deutete sich auf sozialer Ebene bereits in der griechischen Frühantike an. Wie Richard Sennett in seinem Buch «Handwerk» (2008) erläutert, bildeten Handwerker zu Homers Zeiten die Mittelschicht. In der Hierarchie gesellschaftlicher Funktionssysteme standen sie zwischen den Sklaven, die zu jeder Art von Arbeit, insbesondere körperlicher, gezwungen werden konnten, und den freien Bürgern, die sich einzig zu politischer, also geistiger Arbeit bemüssigt fühlten. Während die damalige soziale Ordnung den Bürgern als eine weitestgehend unverbrüchliche und natürliche galt, wäre es heute, in Zeiten höherer sozialer Mobilität, falsch, sich das Handwerk wie ein Glied in einer Kette vorzustellen. Eher markiert es einen dynamischen, sich ständig verschiebenden Bereich auf einem Kontinuum, das sich zwischen mechanisch-repetitiven Tätigkeiten und solchen, die man in idealistischeren Zeiten als den unsrigen «schöpferisch» nannte, erstreckt. Die Übergänge zwischen den Bereichen sind gradueller, fliessender Art – wie es Kunst gibt, die mit Aktivismus flirtet, und Kunst, die sich von jeglicher Vereinnahmung distanziert, gibt es Handwerk, das sich der Kunst nähert, und solches, das mechanisch-repetitiver Arbeit näher steht.

Dewey als Korrektiv

Eine solche Sicht auf das Handwerk vertrat auch der US-amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey, der massgeblich die Lehre am Black Mountain College inspirierte. Dewey unterteilte die Welt nicht in eherne Kategorien, die gemeinhin eher etwas über das komfortable Weltbild der Unterteilenden verraten als über die Wirklichkeit selbst. In seinem Buch «Kunst als Erfahrung» (1934), einer Synthese seiner Überlegungen zur Ästhetik, spielt stattdessen die Idee des Kontinuums eine zentrale Rolle. Kunst und Alltag, Kunst und Technik, Kunst und Handwerk verstand Dewey nicht als diskrete Einheiten – gleichsam im digitalen Modus –, sondern als Bereiche des besagten Kontinuums. Kontinua sind, um im Bild zu bleiben, von analogem, also stufenlosem Charakter. Wenn etwa ein Arbeiter «achtsam und liebevoll» verfährt, geht seine Arbeit aus Deweys Sicht in die Kunst über. Mehr noch, in der ästhetischen Erfahrung wird die Trennung zwischen Subjekt und Objekt wenigstens teilweise suspendiert. Ein Objekt ästhetisch zu erfahren bedeutet, bis zu einem gewissen Grad selbst dieses Objekt zu werden. Ästhetische Erfahrung ist implizit Ekstase: Aus-sich-Heraustreten. Das gilt nicht nur für die Rezeption, sondern auch für die künstlerische Produktion: «Beim Künstler decken sich Denk- und Arbeitsmedien, und die Begriffe liegen so nahe beim Objekt selbst, dass sie unmittelbar mit ihm verschmelzen.» Analog dazu, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne, verhält es sich mit dem Handwerk. Gute Handwerker bearbeiten nicht nur Materialien und Objekte, sie arbeiten auch MIT ihnen, ja sind ein Teil von ihnen. Mithin arbeiten sie immer auch an sich selbst.

Wenn Kunst überdies darin besteht, «Stoffe, die stammeln oder in der gewöhnlichen Erfahrung gar sprachlos sind, in beredte Medien zu verwandeln», dann ist Handwerk der erste Schritt in diese Richtung: Transformation, Veredelung der vorgefundenen Realität. Im Kompositum «Handwerk» ist dieser Doppelcharakter bereits angelegt: Einerseits ist da die physische «Hand», andererseits das geistig konnotierte «Werk». All das hat, wie man unschwer erkennen wird, weder etwas mit nostalgischen Gute-alte-Zeit-Szenarien noch mit weltabgewandter Selbstgenügsamkeit zu tun.

In mancherlei Hinsicht ist Deweys Buch heute nicht mehr aktuell. Etwa wenn er den Kapitalismus dafür kritisiert, Kunst und Leben getrennt zu haben. Mittlerweile ist das Gegenteil eingetreten – in der kapitalistischen Kreativwirtschaft ist man bestrebt, Kunst und Leben, Kunst und (Arbeits)alltag in eine produktive Allianz zu bringen. Auch Deweys These, dass Kunst nur in Verbindung mit Emotionen denkbar und erfahrbar sei, ist fragwürdig geworden. Seine Grundprämisse aber, nämlich die dynamische All-Verbundenheit sämtlicher menschlicher Tätigkeiten; seine Betonung der Verflochtenheit von manueller und intellektueller Praxis wie auch Poiesis; sein Philosophieren in Kontinua statt in starren Kategorien – all das stellt ein Korrektiv zum Denken und Handeln jener dar, die nicht nur im technologischen Bereich mit der binären Logik von Nullen und Einsen liebäugeln.

Dr. Jörg Scheller (joerg.scheller@zhdk.ch) ist Kunstwissenschaftler und leitet den Bereich Theorie im Bachelor Kunst & Medien der ZHdK.
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