«Leder verlangt eine ethische Haltung von uns»

Fotos: Regula Bearth © ZHdK

Trotz Vegantrend und wachsendem Umweltbewusstsein ist die tierische Haut aus Mode und Alltag nicht wegzudenken: Leder ist omnipräsent. Doch das stinkende Handwerk des Ledergerbens passt nicht mehr in die westliche Welt; unser Leder stammt heute aus Asien und Lateinamerika. Ein Interview mit Materialexpertin Franziska Müller-Reissmann, die für einen bewussteren Umgang mit Leder plädiert und einen Weiterbildungskurs zum Thema anbietet.

VON ANNINA MARIA JAGGY

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 Annina Maria Jaggy: Was ist Leder eigentlich?
Franziska Müller-Reissmann: Haut wird durch Gerben zu Leder. Sie wird in ihrer Struktur verändert und dauerhaft haltbar gemacht. Bereits früh in der Menschheitsgeschichte nutzte man die Hirnmasse erlegter Tiere als Gerbstoff für deren Haut. Diese sogenannte Sämischgerbung, die auf tierischen Fettsäuren beruht, wurde bald einmal durch die vegetabile Gerbung mit Eichenrinde und anderen pflanzlichen Stoffen ergänzt.

Wie lange dauert der Gerbprozess?
Die traditionellen vegetabilen Gerbverfahren nehmen bis zu 18 Monate in Anspruch. Nicht zuletzt deshalb wurden sie im 20. Jahrhundert durch die heute dominierende effizientere chemisch-mineralische Gerbung mit Chrom verdrängt. Eine Chromgerbung dauert nur gerade vier Stunden und passt damit besser zur heutigen Massenproduktion und Konsumkultur. Im Unterschied zur zeitintensiven Pflanzengerbung ermöglicht die chemische Gerbung auch ganz andere Produkte: Mit weichen Schuhen und leicht färbbarer Kleidung hat sie die Ledernutzung revolutioniert und zugleich das Lederhandwerk industrialisiert.

Weshalb finden sich heute kaum mehr Gerbereien in Europa?
Das liegt vor allem an den strikten Umweltauflagen für das Chromgerben. Es ist wirtschaftlicher, ausserhalb Europas gerben zu lassen, in Ländern, in denen die Auflagen hinsichtlich Abfallchemikalien und Arbeitssicherheit weniger streng sind oder nicht kontrolliert werden. Um 1900 gab es in der Schweiz 350 Ledergerbereien, heute sind es noch deren drei. Mit ihrem meist vegetabil gefärbten Leder bedienen sie einen kleinen Kreis von Privatkunden und Liebhabern.

In vielen anderen Bereichen erlebt das Handwerk in der Schweiz zurzeit ein Revival – weshalb ist Ledergerben nicht trendy?
Ledergerben ist unabhängig vom Gerbstoff ein schmutziges Handwerk, dessen Arbeitsschritte wie Entfleischen, Äschern, Gerben und Zurichten sich schlecht mit der Ästhetisierung von Vorzeigehandwerk und regionaler Kulturpropaganda vertragen. Daher scheint der Verlust dieses Handwerks in der Schweiz verschmerzbar. Das Fehlen von Gerbereien hilft uns zudem dabei, die Bedingungen, unter denen heutige Massenleder produziert werden, zu verdrängen. Entsprechend werden Kinderarbeit und Umweltskandale rund um chromgegerbte Leder nicht unbedingt mit dem Schuh, den wir am Fuss tragen, assoziiert.

Obwohl sie nicht unumstritten sind, ist die Nachfrage nach Kleidern und Objekten aus Leder ungebrochen. Was verbinden wir – bewusst oder unbewusst – mit dem Material?
Wir sind es gewohnt, eine Barriere zwischen uns und dem «Echten» zu errichten: Verpackungen zwischen Essen und uns, Mode zwischen Kleidung und uns, Medien zwischen Erfahrungen und uns. In dieser «Echtheitslücke» scheint Leder eine besondere Funktion einzunehmen. Obwohl wir weder jagen noch schlachten oder gerben, ist Leder, besonders dasjenige aus der Haut wilder Tiere, für uns trophäisch aufgeladen. Ob als Print oder echt: Exotenleder sind sowohl Ausdruck von Macht wie auch Wildheit. Die Haut des getöteten Lebewesens, die wir uns überziehen, polarisiert dabei stark: Veganer lehnen Leder kategorisch ab, anderen ist es ein Zeichen für Naturverbundenheit, wieder anderen für Luxus.

Wie beurteilst du als Expertin den Einsatz von Leder?
Ob wir Leder tragen, können wir selbst entscheiden. Wie es hergestellt wird leider nicht. Jenseits von Handwerksromantik und Misstrauen gegenüber industrieller Fertigung bedeutet das Wegfallen des Gerberhandwerks eine Verschleierung des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier. Wenn wir uns die Haut anderer Lebewesen schmückend umlegen, ist eine ethische Haltung von uns unbedingt gefragt. Sowohl Konsumentinnen und Konsumenten wie auch Gestalterinnen und Künstler, Modedesigner oder Kulturvermittlerinnen sollten sich deshalb vertieftes Hintergrundwissen zum Thema Leder und Gerben aneignen.

«Leder – Herstellung und Bedeutung eines tierischen Materials» ist einer von 15 Weiterbildungskursen, welche die ZHdK im Rahmen der Summer School 2018 anbietet. Die Summer School vom 30. August bis 9. September bietet Personen, die ihre erste künstlerische Ausbildung bereits abgeschlossen haben, kompakte Inputs zu aktuellen Entwicklungen in den Künsten, im Design und in der Vermittlung. Anmeldeschluss 10. August, Early-Bird-Rabatt bis 15. Juni: www.zhdk.ch/sws
Franziska Müller-Reissmann (franziska.mueller-reissmann@zhdk.ch) ist Koordinatorin des Material-Archivs und Dozentin an der ZHdK.
Das Material-Archiv ist eine Zusammenarbeit von Gewerbemuseum Winterthur, Sitterwerk St. Gallen, Hochschule Luzern – Technik & Architektur, ETH Zürich, ZHAW, Hochschule der Künste Bern sowie Zürcher Hochschule der Künste. Es umfasst verschiedene Materialsammlungen an den jeweiligen Standorten, die in Verbindung mit der als digitales Nachschlagewerk angelegten Onlinedatenbank einen breiten und fundierten Zugang zu Materialwissen bieten. Berufsleute aus Architektur, Design und Kunst sowie Studentinnen, Schüler und Auszubildende finden hier eine Fülle von Informationen zu traditionellen und innovativen Werkstoffen. In der Materialsammlung der ZHdK im Toni-Areal finden sich zahlreiche Lederproben zum Anfassen, vom Hühnerbeinleder bis zum Leder der asiatischen Agakröte.
www.zhdk.ch/miz-materialarchiv
Annina Maria Jaggy (annina.jaggy@zhdk.ch) ist Kommunikationsverantwortliche der Weiterbildung der ZHdK.
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