Dozierendenporträt: Johannes Schlaefli

Vermittelt seinen Studierenden Werkzeuge, keine Wahrheiten: Dirigierdozent Johannes Schlaefli im grossen Konzertsaal des Toni-Areals. Foto: Betty Fleck
Er gehört zu den erfolgreichsten und gefragtesten Dirigierdozenten weltweit: Professor Johannes Schlaefli, Leiter der Dirigierklasse an der ZHdK sowie Chefdirigent des Kurpfälzischen Kammerorchesters Mannheim. Ein Porträt von FRANZISKA NYFFENEGGER.
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Wer im Toni-Areal im Kaskadenkaffee Pause macht, erkennt die hin und her eilenden Musiker an ihren Instrumentenkoffern oder daran, dass sie kopierte Notenblätter zusammenkleben. Dass im Dirigiersaal hinter dem Café gerade die Maestri und Maestre von morgen an der Arbeit sind, wissen allerdings die wenigsten. Hier herrscht konzentrierte Spannung. Elf Musikerinnen folgen den Einsätzen einer temperamentvollen Studentin, deren Hände schneller sind als die Bogen der Streicher. Manchmal unterbricht Johannes Schlaefli die Probe mit einer leichten Bewegung. Er stellt Fragen, macht kurze Kommentare: «Careful now, this beat is spicy.»
Seit 1999 leitet Schlaefli die Dirigierklasse und macht offenbar vieles richtig. Seine Studierenden gewinnen internationale Preise, stehen vor hochkarätigen Orchestern und lassen von sich hören – nicht nur im Konzertsaal. Zum Beispiel Mirga Gražinytė-Tyla. Am Hochschultag 2017 erhielt sie als Erste den neuen ZHdK-Ehrentitel Companion für herausragende Leistungen in jungen Jahren. Nach ihrer Ernennung zur Leiterin des City of Birmingham Symphony Orchestra vor einem Jahr schrieb die «NZZ» über die knapp Dreissigjährige: «A star was born.»
Wie aber bildet man Stars aus? Gibt es ein pädagogisches Rezept oder ist die Selektion der Studierenden einfach derart gut, dass danach nichts mehr schiefgehen kann? Schlaefli lächelt und meint, er wisse auch nicht genau, woher der Erfolg komme, um dann anzumerken, dass die Bewerbungen für einen Studienplatz schon sehr gut seien. Von rund fünfzig Interessenten pro Jahr werden zwölf zur Aufnahmeprüfung zugelassen, zwei bestehen. Aller Bescheidenheit zum Trotz: Die guten Bewerbungen sind zweifellos dem herausragenden Ruf der Zürcher Dirigierklasse geschuldet. Und wenn Mirga Gražinytė-Tyla bei der Entgegennahme des ZHdK-Companion sagt, sie wolle für immer eine Studentin von Johannes Schlaefli bleiben, lässt sich seine Person nicht aus der Erfolgsformel wegdividieren.
Musik in den Händen
«Deine Zeit ist um», sagt Schlaefli. Die Studentin bedankt sich beim Ensemble, der Nächste stellt sich hinters Pult, begrüsst die Musiker und beginnt mit seinem Teil der Probe. Der Dozent beobachtet das Geschehen, unterbricht, fragt, kommentiert, fragt erneut. Der Austausch findet in einer für nicht musizierende Aussenstehende kaum verständlichen Sprache statt. Manchmal hilft eine Metapher: «You are already divorced. Stay together!», wenn der Dirigent dem Orchester mit seinen Gesten davonläuft, oder: «I see your hand listening», wenn nach einem erfolgreichen Einsatz der nächste unterzugehen droht. Die Mischung aus kurzen deutschen oder englischen Sätzen und den italienischen Angaben für die Tempi – «Sostenuto!», «Incalzando!» – erntet immer wieder Lacher. Die Stimmung im Saal ist hoch konzentriert und gelöst zugleich.
Johannes Schlaefli ist ein genauer Beobachter und ein fokussierter Fragesteller. Er sieht jede noch so kleine Bewegung, hört jeden zu früh oder zu spät gesetzten Ton. Er kommentiert knapp und punktgenau und bleibt dabei immer freundlich und konstruktiv. Ohne die Inhalte zu verstehen, spürt die Beobachterin, welch ein Privileg es ist, bei diesem Mann in die Lehre zu gehen. Das wissen seine Studierenden und sie schätzen ihn als Dozenten ebenso wie als Menschen, als Wegbegleiter, als Vermittler und Mentor. Einer seiner Masterstudenten bezeichnet ihn als «Meister der Pädagogik des exemplarischen Lernens»: «Wir lernen natürlich viel Repertoire, aber nicht zu viel. Besser etwas herauspicken, damit einen Schritt weiterkommen und es dann auf analoge Stellen in anderen Werken anwenden.» Der Nachwuchsdirigent schätzt an Schlaefli, dass er die Studierenden dazu animiert, eigene Lösungen zu finden, ihre innere Stimme zu entwickeln.
Die richtige Frage stellen
«Ich möchte meinen Studierenden ihre Eigenheit lassen», bestätigt Schlaefli, «und trotzdem penetrant meine eigene Sicht vertreten.» Aufgabe des Dozenten sei es, sowohl Reibungs- wie auch Definitionsfläche zu bieten, ohne dabei irgendjemandem die Luft abzuschnüren. Dass seine Absolventen für ihren eigenen Stil bekannt sind, macht ihn stolz. Sie dirigieren nicht «à la Schlaefli», sondern finden durch ihn ihren eigenen Weg. «Freiheit ohne Beliebigkeit» lautet ein weiteres Diktum. Den richtigen Moment zu finden, um die richtige Frage zu stellen, sei entscheidend – und den Mund zu halten. Genau wie der Dirigent dem Orchester von hundert Dingen nur deren drei sage, kommentiere er als Dozent auch wenig – dies dafür umso präziser.
Schliesslich spielt die Arbeit in der Klasse eine zentrale Rolle. Dirigieren ist ein einsames Geschäft, vielleicht das einsamste überhaupt. Umso wichtiger, so Schlaefli, sei das Lernen in der Gruppe. Im Austausch mit den anderen lernen die Einzelnen ihre Individualität kennen und konturieren, und sie lernen, wie sie sich später alleine helfen können. «Self-Teaching» lautet hier das Stichwort. Er verstehe sich eher als Coach denn als Instruktor, meint Schlaefli, als einer, der punktuell Fingerzeige gebe und Werkzeuge vermittle, aber keine Wahrheiten. Seinen Job empfindet er als grosses Glück. Ist es nicht auch herausfordernd, ja schwierig, das Dirigieren und Dirigierenlehren? «Velofahren ist auch nicht einfach, wenn man nichts davon versteht», antwortet er, nimmt seinen Mantel und macht sich auf Richtung Bulgarien, wo seine Studierenden eine Woche lang mit einem Symphonieorchester üben werden.