Das Begehren nach «weniger» hat die Kunst und Kultur der westlichen Moderne von Beginn an begleitet. Gerade weil diese Moderne eine Ära des Wachstums, des Wettbewerbs und der Wohlstandsvermehrung ist, wird sie vom verführerischen Schatten der Reduktion begleitet.

VON JÖRG SCHELLER
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Ob die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit (Jean-Jacques Rousseau), die radikale Beschränkung gestalterischer Mittel (Kasimir Malewitsch), das Bedürfnis «wieder zu malen wie ein Kind» (Pablo Picasso) oder das Leiden an Reizüberflutung, Anlagenotstand und Konsumangebotsvielfalt – die Geschichte der Moderne liesse sich auf dialektische Weise entlang der Konjunktur von Slogans wie «Less is more», «Simplify your life» oder «Back to the basics» schreiben.

Dialektik in der Kunst, Rebound in der Wirtschaft

Die Rollen sind dabei klar verteilt: Die einen werfen immer opulentere, komplexere Produkte auf den Markt, die anderen bieten – vermeintlich – komplexitätsreduzierende, minimalistische Konterprodukte an. Wuchert der Malerfürst gerade noch mit fussballfeldgrossen Historienschinken für die Pariser Salonausstellung, setzt Giorgio Morandi ihm bald darauf demonstrativ karge Stillleben entgegen. Lässt der Monumentalsymphoniker sein neuestes mehrstündiges Werk aus dem überfüllten Orchestergraben donnern, steht Anton von Webern schon mit lakonischen Minimalkompositionen bereit. Auf diese wiederum, dessen darf man sich gewiss sein, reagiert wenig später ein anderer mit umso pompöserem Täterätä. Die Negation des einen durch das andere ist somit zugleich die Lebensversicherung des Ersteren.

Speist sich der eben beschriebene dialektische Prozess massgeblich aus der marktwirtschaftlichen Innovations- und Wettbewerbslogik wie auch der modernen Kulturkritik, kennt die ökonomische Theorie des 19. Jahrhunderts einen weiteren Grund, warum «weniger» in der westlichen Moderne eigentlich immer zu «mehr» geführt hat. Im Jahr 1865 veröffentlichte der britische Ökonom William Stanley Jevons seine epochale Studie «The Coal Question; An Inquiry Concerning the Progress of the Nation, and the Probable Exhaustion of Our Coal Mines». Darin wird erstmals beschrieben, was heute als Rebound-Effekt bekannt ist.

Jevons hatte festgestellt, dass Effizienzsteigerung bei Anlagen und Maschinen nicht etwa zu weniger Verbrauch von Kohle in der Industrie führte. Im Gegenteil. Vereinfacht gesagt: Wird für Hochöfen weniger Kohle verbraucht, steigt der Profit des Unternehmens, was mehr Kapital anzieht. Die Preise fallen, die Nachfrage steigt, die Anzahl Hochöfen ebenso. So kommt es, dass schliesslich mehr Kohle verbraucht wird als zuvor. Dies führte Jevons zu luziden, gerade heute wieder relevanten Gedanken über Nachhaltigkeit. Drosselt man beispielsweise den Benzinverbrauch von Autos, hat das nicht automatisch zur Folge, dass weniger Erdöl gefördert werden muss. Vielmehr fahren die Menschen unter Umständen sogar häufiger Auto, es ist ja schliesslich billiger geworden! Dasselbe gilt für – vermeintlich – «ökologische» Produkte. Weil es sich gut und richtig anfühlt, konsumieren die Menschen nicht weniger, sondern mehr.

Warhol: der Meister des künstlerischen Rebounds

Auf die Künste und insbesondere auf die bildende Kunst lässt sich der Rebound-Effekt zwar nur bedingt übertragen, weil die Märkte hier weitestgehend am Prinzip der künstlichen Verknappung orientiert sind. Sprich: Eine Künstlerin, die ihren Arbeitsprozess optimiert, wird deshalb nicht gleich doppelt so viele Werke auf den Markt werfen – sie würde Gefahr laufen, zu langweilen und die Preise für Einzelwerke zu drücken. Coca-Cola hingegen hat ein genuines Interesse daran, den Absatz unablässig zu steigern. Allerdings setzte der Doyen der Pop Art Andy Warhol auf genau diese Strategie, was seine Galeristen zur Weissglut brachte: «Andy, warum machst du nicht zehn Bilder zu hohen Preisen anstatt hundert zu niedrigen? Das ist viel weniger Aufwand!»

Als versierter Kapitalist in der Blütezeit des demokratischen Massenkonsums lehnte Warhol jedoch das Prinzip «Less is more» ab. Er wollte wie Coca-Cola überall und möglichst überall gleichzeitig sein. Genau an diesem Punkt kommt Jevons wieder ins Spiel. Je effizienter Warhol in seiner Factory die Kunstproduktion organisierte, desto mehr Zeit stand für Jetsetreisen, Interviews, TV-Auftritte, Partys, Ausstellungen, Konzerte, Auktionen und anderes zur Verfügung – und all das war integraler Teil seines Gesamtwerks. Sprich: Die Effizienzsteigerung durch die Factory bedeutete nicht eine Einsparung beziehungsweise Reduktion von Ressourcen, sondern einen diversifiziert wachsenden Verbrauch derselben – Zeit, Strom, Kerosin, Mitarbeiter, Nerven und so weiter. Die inhärenten Folgen der Professionalisierung, Biennalisierung und Eventisierung des Kunstbetriebs der Gegenwart werden vor diesem Hintergrund besser verständlich. Je effizienter die Organisation, etwa durch Digitalisierung, Managementisierung, Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur oder fachkundiges Art Handling, desto mehr wird ausgestellt, von Biennale zu Biennale geflogen, von Residency zu Residency geeilt. Zeichnet sich derzeit «Kunst & Ökologie» als Trend ab, gilt es, wachsam zu sein und Jevons’ Thesen im Hinterkopf zu behalten – andernfalls werden Greenwashing und Artwashing Hand in Hand gehen.

Das Intelligenteste und Abgeklärteste zum Thema «Less is more» stammt übrigens aus dem Munde des schwedischen Gitarrenvirtuosen Yngwie Malmsteen. In einem Interview sagte er 2010, man gebe ihm mitunter zu bedenken, dass weniger mehr sei. Dies leuchte ihm jedoch nicht ein: «How can that be? How can less be more? It’s impossible. More is more.»

Dr. Jörg Scheller (joerg.scheller@zhdk.ch) ist Kunstwissenschaftler und leitet den Bereich Theorie im Bachelor Kunst & Medien der ZHdK.
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