Bei ihr erklärt der Teddy Kant

Dozierendenporträt: Hayat Erdogan

Zufällig im Toni-Areal gefunden: Seit Hayat Erdogan den gefundenen Teddy «adoptiert» hat, wirkt er als ihr «Erklärbär». In einem Seminar zum «Nibelungenlied» durfte er den Siegfried geben und auch Texte wie Kants «Kritik der Urteilskraft» könne er den Studierenden mühelos näherbringen.

Wer sich an der ZHdK nach Hayat Erdogan erkundigt, hört zwei Begriffe auffällig oft: «Theorie» und «Praxis». Das damit umrissene Spannungsfeld scheint die junge Dozentin, die im Master Theater und in übergreifenden Lehrveranstaltungen unterrichtet, souveräner als andere zu bespielen. Ein Porträt von ISABELLE VLOEMANS.
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Ihre Lehrveranstaltungen tragen Titel wie «Dramaturgien des Unheimlichen» oder «Performing Truth. Kunst und Aktivismus in Zeiten phantastischer Politik». Da sitzt dann beispielsweise ein Dramaturgiestudent, der ein Schauspielstudium mitbringt, neben einem, der ein Studium der Politikwissenschaften abgeschlossen hat. Für Hayat Erdogan ist die unterschiedlich ausgeprägte theoretische Vorbildung ihrer Studierenden eine stete Herausforderung: «Ich frage mich immer: ‹Wie abstrakt darf es sein?›, und: ‹Wie narrativ muss es sein?›», sagt sie.

Regiestudent Timon Jansen erzählt, zu Hayats Lehrveranstaltungen gebe es immer einen extrem umfangreichen Reader, der von den wenigsten ganz gelesen werde. Es gebe eine Kluft zwischen den theoretisch Interessierten und den anderen Studierenden. Hayat sei sich dessen bewusst und wisse damit umzugehen. Was das heisst? Sie könne theoretische Positionen sehr gewandt auf die künstlerische Praxis herunterbrechen und vielfältige Bezüge zu Beispielen aus dem Theater, aber auch aus Film, Design oder bildender Kunst herstellen.

Vom Theater zur Literaturwissenschaft

Aufgewachsen in der Stadt Mühlacker bei Stuttgart, wollte Hayat Erdogan nach dem Abitur zunächst bildende Kunst studieren. Ihre Bewerbung um einen Studienplatz wurde mit der Empfehlung abgelehnt, sie solle zunächst ein künstlerisches Praktikum machen. Fünf Hospitanzen am Theater später entschied sie sich jedoch für ein Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität Stuttgart. «Weil ohne Dramaturgie alles nichts ist», hängte sie ein Dramaturgiestudium an der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg an. 

Gefragt nach prägenden intellektuellen Einflüssen auf ihrem Weg, nennt Hayat Erdogan die Lektüre von James Joyce. «Theorien wie Intertextualität oder Dekonstruktion haben sich mir durch sein Werk noch einmal anders erschlossen.» Als Forschungsstipendiatin der James Joyce Foundation in Zürich und in Triest hat sie sich intensiv mit dem Literaten auseinandergesetzt. Ihre Dissertation, an der sie momentan arbeitet, ist dem österreichischen Philosophen Rudolf Kassner gewidmet und setzt sich mit dessen Begriff der Einbildungskraft auseinander. Näher kann die Autorin dieses Porträts das Dissertationsprojekt nicht ausführen, da sie trotz eines abgeschlossenen Philosophiestudiums Mühe hatte, den wortreichen und rasanten Erläuterungen der Doktorandin zu folgen. «Schnell­denkerin und ­-rednerin» ist denn auch eine mehrfach gehörte Charakterisierung von Hayat Erdogan.

Das Schreiben an ihrer Doktorarbeit empfinde sie als sehr befriedigend, mühsam sei lediglich, dass sie durch ihre zahlreichen weiteren Verpflichtungen immer wieder aus dem Schreibprozess herausgerissen werde, der sie ansonsten völlig vereinnehme: «Ich bin eine Tranceschreiberin.» Die beste aller möglichen Existenzen bringt Hayat Erdogan für sich denn auch auf die Formel «schreiben und lesen und darüber mit anderen Menschen sprechen».

Zugänglich, doch klar positioniert

Überhaupt andere Menschen: Nicht nur mit Texten, auch mit den Menschen scheint sies gut zu können. «Sie hat wirkliches Interesse an den Projekten der Studierenden», sagt Dramaturgiestudent Nikolai Prawdzic, der auf der ganzen Linie begeistert über seine Dozentin spricht: «Sie weiss oft mehr und unterstützt mehr als andere.»

Dass Hayat sehr zugänglich sei, sagen mehrere Studierende. Fiona Schreier betont ihre auffallende Präsenz: «Sie ist in mehrfachem Sinne anwesend.» Bei aller Offenheit und Einsatzbereitschaft sei die Dozentin, die mit Jahrgang 1981 oft nur wenig älter als ihre Studierenden ist, sehr direkt und bestimmt, wenn es um Feedback und Kritik gehe: «Sie steht ganz klar für eine bestimmte ästhetische Position und verhehlt ihren Geschmack nicht», sagt Timon Jansen. Diese Position zeichne sich durch die Lust an Widersprüchen, einen produktiven Zynismus und einen antipathetischen Zugang zum Theater aus.

Dass sich die Studierenden bei ihr am Puls der Zeit fühlen, bringt Hayat Erdogan mit ihrer Arbeit in der Theaterkommission der Stadt Zürich in Zusammenhang, in der sie über Fördergesuche und Auszeichnungen entscheidet: «Durch die eingereichten Dossiers und weil ich mir das meiste davon auch anschauen gehe, kriege ich mit, was in der Luft liegt. Das fliesst in die Lehre mit ein, weil wir in der Praxis beobachtete Entwicklungen in der Ausbildung begleiten oder sogar antizipieren wollen.»

Menschen und Disziplinen vernetzen

Dass es bei Hayat Erdogan nicht beim Willen, innovativ zu sein, bleibt, sondern ihr Innovation auch tatsächlich gelingt, bestätigt Simone Karpf, wissenschaftliche Unterrichtsassistentin im Master Theater. Hayat habe die Fähigkeit und grosse Lust daran, Dinge zu kombinieren, die andere nicht auf Anhieb zusammenbringen würden. Ihren Unterricht besuchen deshalb Studierende aller Disziplinen, und ihr persönliches Netzwerk umfasst Künstlerinnen und Künstler unterschiedlichster Prägung ebenso wie Psychoanalytiker, Philosophen oder Politikwissenschaftlerinnen. Auch Jacqueline Holzer, Leiterin des Bachelors Theater an der ZHdK, sieht Hayat Erdogan als «Schnittstellensurferin» und als jemand, der in der Folge «wirklich etwas anderes macht als andere», ja deren Tun geradezu «abenteuerlich» ist. Die Zukunft könne für Hayat deshalb noch vieles bringen: «Natürlich könnte sie Professorin werden. Aber weil sie so begabt ist, spannende Leute zusammenzubringen und anders nachzudenken, sehe ich sie als eine Person, die eine Institution neuer Art gründen wird.»

Die Angesprochene findet diese Vorstellung zwar bestechend – doch noch passe es an der Kunsthochschule sehr gut für sie, weil sich hier ihre künstlerischen und wissenschaftlichen Interessen verbinden liessen. Und weil ihr das Unterrichten und das Voneinanderlernen wichtig seien.

Isabelle Vloemans war Projektleiterin in der Hochschulkommunikation der ZHdK.
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