Algorithmen mit menschlichem Touch

Hat das Konzept «Smart Curation» geprägt: Frédéric Martel.

Wie beeinflusst die Digitalisierung die Zukunft der Kunstkritik und welche neuen Einkommensstrategien sind für Kunstschaffende damit verbunden? Im Gespräch mit ISABELLE VLOEMANS gibt Autor und ZHdK-Forscher Frédéric Martel Einblick in seine umfassenden Studien zum Thema.
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Isabelle Vloemans: Welche Fragen versuchen Sie mit Ihrem Konzept der «Smart Curation» zu beantworten und was genau bedeutet dieses?
Frédéric Martel: Als Forscher am Departement Kulturanalysen und Vermittlung der ZHdK versuche ich, die Zukunft der Künste im digitalen Zeitalter zu verstehen, zu entschlüsseln und sie mir vorzustellen. Das ist der Kern meiner Forschungsarbeit hier in Zürich. Derzeit arbeite ich in drei Richtungen: Zukunft der Kritik – wie die Digitalisierung Empfehlungen beeinflussen wird; Veränderungen, die die sozialen Netzwerke in die Künste einbringen; und neue Einkommensmodelle für Kunstschaffende.
Das «Smart Curation»-Konzept, das ich in einem Papier für die ZHdK ausgearbeitet habe, ist Teil der ersten Forschungsarbeit. Es ist ein Versuch, zu verstehen, wie wir Musik, Bücher, die visuellen Künste oder Theaterstücke in Zukunft «empfehlen» werden. Das Konzept kann auch auf Hotelempfehlungen, den Tourismus, Autos oder Uhren angewandt werden. Die zugrunde liegende Idee betrifft einerseits das Ende von Rezensionen, wie wir sie bisher gekannt haben (Film- oder Buchkritiken beispielsweise), angesichts der Fülle von Inhalten. Andererseits sind die Algorithmen von Empfehlungen, die zwar sehr effizient sind (auf Netflix, Amazon oder Spotify), nicht präzise genug. Ich glaube an einen dritten Weg: eine Kombination von Empfehlungen durch Maschinen und durch Menschen, die Verbindung «smarter» Daten mit der persönlichen Wahl eines Kritikers oder einer Kritikerin (eine «Curation»).

Lassen Sie uns die Funktionsweise von «Smart Curation» anhand einiger Beispiele konkretisieren. Fall 1: Ich bin Serienfan, immer auf der Suche nach der nächsten sehenswerten Serie – Welches Zukunftsszenario entwerfen Sie mit «Smart Curation» für mich?
Sie können dem Netflix-Algorithmus folgen, und er wird Ihnen eine gute Serie empfehlen – vielleicht eine, die Netflix selber produziert hat, beispielsweise «Sense8». Oder Sie können die Spalte mit der Besprechung von TV-Serien in Ihrem bevorzugten Printmagazin lesen, und in dieser eine Empfehlung finden, zum Beispiel die neue Staffel von «Orange Is the New Black» (ebenfalls Netflix) oder in Frankreich etwa «Le Bureau des Légendes». In diesen Szenarien sind Sie entweder vom Netflix-Algorithmus oder von der Meinung des herkömmlichen Kritikers abhängig. Aber vielleicht sind diese Empfehlungen für Sie ja zu wenig genau: Die erste Serie könnte allzu banal und die zweite zu elitär sein. Mit «Smart Curation» dagegen können Sie einen Weg wählen, der smarte Daten mit persönlichen Empfehlungen kombiniert. Ein Tool wie Discover Weekly auf Spotify kombiniert Ihre eigene Musikauswahl mit der Mainstreamauswahl der Woche auf Spotify und derjenigen von Hunderten von Influencern (etwa DJs, Radioprogrammgestalterinnen, Blogger, Journalistinnen oder Social-Media-Influencer). So sieht die Zukunft von Empfehlungen aus.

Fall 2: Ich bin Sängerin einer Popband und will, dass meine Musik wahrgenommen wird – ist «Smart Curation» für mich eher Bedrohung oder Chance?
Ich denke, sie bietet eine gute neue Möglichkeit. Wenn Sie in einer Indie-Band sind, sind Sie in der Vergangenheit weder von den traditionellen Kritikern noch von den Algorithmen freundlich behandelt worden. Der Mainstream ist dem Indie-Bereich bisher stets vorgezogen worden, obwohl es Ausnahmen gibt. Daher sind Tools mit doppeltem oder mehrfachem Filter für den Indie-Bereich besser.

Fall 3: Ich bin Autorin und habe mir auf Twitter eine Follower-Gemeinde aufgebaut, die meine Beiträge begeistert liest und weiterverbreitet – wer kuratiert hier was für wen und inwiefern ist das smart?
Die sozialen Netzwerke stehen im Zentrum von «Smart Curation». Sie sind zum Beispiel auf Facebook oder Instagram Followerin eines Influencers für Bücher, den Sie sehr schätzen, und Sie «liken» einen seiner Posts. Ihre Freundinnen und Freunde werden Ihren «Like» sehen. Der Facebook-Algorithmus erhöht nun die Verbreitung des Inhalts. Eine einzige persönliche Empfehlung auf Facebook kann sich viral verbreiten – oder eben nicht – dank einer Mischung aus persönlichen und aus Algorithmuseinschätzungen. Aber wir stehen erst am Anfang dieser Reflexion und der Entwicklung solcher Tools.

Welche Geschäftsmodelle und -strategien gewinnen mit der Digitalisierung für Kulturschaffende generell an Bedeutung?
Wir sollten vorsichtig sein mit Prognosen, da diese Entwicklungen sehr komplex und Vorhersagen schwierig zu machen sind. Wir erleben es täglich – auch wenn uns diese Entwicklung vielleicht nicht gefällt –, wie Kunstschaffende, aber auch Schriftsteller und Journalistinnen zu «Marken» werden. Und diese Marken müssen in den sozialen Netzwerken gefördert werden. Neue Einkommensmodelle sind immer häufiger von der Community und der gesellschaftlichen Popularität abhängig (beispielsweise Crowdfunding, das «Live»-Ökosystem, der Umsatzanteil von Youtube). Im Departement Kulturanalysen und Vermittlung der ZHdK arbeiten wir an diesen Modellen. Ich sehe viele Möglichkeiten für Start-ups im Bereich der «Smart Curation» und auch neue Einkommensmodelle für Kunstschaffende. Gleichzeitig könnten diese Möglichkeiten ohne Regulierungen aber auch zu Gefahren von Seiten der Internetgiganten im Silicon Valley werden.

Was bedeutet «Smart Curation» für die künftige Ausbildung an Kunsthochschulen?
Mein Hauptinteresse als Forscher an der ZHdK ist, über die Zukunft der Künste und der Kunstschaffenden nachzudenken – und das ist auch unsere Verantwortung. Gesetzt den Fall, die Einkommensmodelle der Kunstschaffenden sowie die Art und Weise, wie sie durch Empfehlungen bekannt werden, verändern sich bis 2030 stark, sollten wir diese Verlagerung antizipieren. Ich glaube, dass wir im Begriff sind, ins «digitale Jahrhundert» einzutreten. Wir befinden uns nicht mitten in der Internetrevolution oder an deren Ende, sondern an deren Anfang. Wir müssen den Wandel verstehen, die Entwicklung voraussehen und die wirtschaftlichen Folgen sowie die Veränderungen im Hinblick auf die Kommunikation verstehen. Ich bin sehr optimistisch, was diese neue Welt betrifft. Aber um den Kunstschaffenden in der Zukunft zu Erfolg zu verhelfen, müssen wir diese Zukunft antizipieren und aktiv mitgestalten.

Frédéric Martel (martel.frederic@gmail.com), PhD-Forscher am Departement Kulturanalysen und Vermittlung der ZHdK, ist auch französischer Autor. Sein letztes Buch, «Smart», ist eine in über fünfzig Ländern durchgeführte mehrjährige Feldstudie über die Digitalisierung der Welt. Er publizierte seine Studie zu «Smart Curation» für die ZHdK (www.smartcuration.fr). 
ZHdK-interne und -externe Experten sowie Kulturpublizistikstudierende arbeiten an www.smartcuration.net
Isabelle Vloemans war Projektleiterin in der Hochschulkommunikation der ZHdK.
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