Wege aus der digitalen Unordnung

Socket Tojan, Installation von ZHdK-Absolvent Johann Lukas Schwarz, 2017. Eine Referenz an TV Buddha von Nam June Paik, 1974, und an die erste Webcam an der Universität Cambridge, welche eine Kaffeemaschine zeigte. Foto: Regula Bearth © ZHdK

Warum Referenzialität nötig ist, um Sinn zu schaffen

Technologische Entwicklungen wie das Internet und die Digitalisierung haben weitreichende gesellschaftliche Auswirkungen. Das Spektrum an Informationen und öffentlich gemachten Meinungen ist grösser denn je. Um Ordnung in diese Informationsflut zu bringen braucht es eine Referenzialität. Doch woran orientiert sich die oder der Einzelne? FELIX STALDER, Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung an der ZHdK, geht dieser Frage nach und hat dazu ein Buch geschrieben.

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Bereits 2009 stellt der Kunsttheoretiker André Rottmann fest, dass «in den letzten Jahren der Umgang mit Referenzen zum vorherrschenden produktionsästhetischen Modell in der zeitgenössischen Kunst geworden ist» (siehe Literaturhinweis unten). Diese Beachtung ist heute noch aktueller als damals, nicht zuletzt deshalb, weil heute (fast) alle Aspekte der Kultur von der Digitalität geprägt sind.

Das Internet als Katalysator

Das Internet ist aber nicht die Ursache dieses Wandels, sondern nimmt eher die Rolle eines Katalysators ein, der viele bereits laufende, vormals unabhängige Entwicklungen – etwa die seit den 1960er-Jahren zunehmende Wichtigkeit kommunikativer Dimensionen in der Arbeit, die seit den 1970er-Jahren erkämpfte gesellschaftliche Akzeptanz nicht-heterosexueller Identitäten und Lebensweisen oder die bereits erwähnte Entwicklung der Medientechnologien – zusammenführt. Sie konnten sich wechselseitig verschränken, was sie verstärkte und dazu führte, dass sie sich jenseits der ursprünglichen Kontexte, in denen sie entstanden waren, ausbreiten konnten. So rückten sie vom Rand ins Zentrum der Kultur, wurden dominant und verschärften die Krise der bisherigen kulturellen Formen und Institutionen, während gleichzeitig neue Formen und Institutionen entstanden und an Einfluss gewannen. In der Summe bilden diese nun eine neue, alle Lebensbereiche – und entsprechend auch Wirtschaftsbereiche – prägende Umgebung, das heisst ein neues Set von Möglichkeiten und Erwartungen.

Selber publizieren in der neuen (Un)ordnung

Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive ist ein zentraler Aspekt dieser neuen Umgebung ihre grundsätzliche Unübersichtlichkeit. Die bisherige Ordnung wurde hergestellt durch Medien, die die Filterung vor den Akt der Veröffentlichung setzten und so eine gewisse Übersichtlichkeit produzierten (zum Preis des selektiven Ausschlusses). In dieser Ordnung konnten viele rezipieren, aber nur wenige publizieren. In der neuen (Un)ordnung kann und muss jeder selbst publizieren. Die Filterung setzt erst danach ein, in der konstanten Bewertung dessen, was bereits publiziert worden ist, als wichtig, richtig oder eben nicht. Im Notfall werden die Dinge wieder gelöscht, so gut das geht. Diese neue Struktur von Öffentlichkeit ist in vielen Aspekten eine logische Entwicklung, die der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in immer mehr Milieus und Nischen Rechnung trägt. Immer weniger Menschen wollen sich sagen lassen, dass ihre Anliegen irrelevant seien. Das Spektrum der Meinungen und Orientierungen, die heute an die Öffentlichkeit gelangen, ist um ein Vielfaches grösser, als es selbst die beste Zeitungsredaktion hätte abbilden können. Selbstverständlich ist nicht jede dieser Meinungen konstruktiv oder begrüssenswert. Aber schon alleine die Idee, dass man wegen Fake News oder anderer problematischer Entwicklungen ein Redaktionssystem einführen müsste, das entscheidet, was online publiziert werden darf, erscheint so absurd, dass deutlich wird, dass es kein Zurück mehr gibt.

Aus der grundsätzlichen Unübersichtlichkeit ergibt sich aber für jeden – ob er oder sie nun dafür bereit ist oder nicht – die Notwendigkeit, sich selbst zurechtzufinden. Die Aufgabe der Filterung und damit der Orientierung vor dem Hintergrund der chaotischen Informationssphäre prägt die Kultur der Digitalität also als Ganzes.

Filtern als Alltagsanforderung

Referenzialität, also das Erstellen eines eigenen Gefüges von Bezügen, ist zur allgegenwärtigen und allgemein zugänglichen Methode geworden, um all die vielen Dinge, die jeder und jedem Einzelnen begegnen, zu ordnen. Sie werden so in einen konkreten Bedeutungszusammenhang gebracht, der auch das eigene Verhältnis zur Welt und die subjektive Position in ihr (mit)bestimmt. Zunächst geschieht dies einfach, indem Aufmerksamkeit auf gewisse Dinge gelenkt wird, von denen dadurch – zumindest implizit – behauptet wird, sie seien wichtig. Mit jedem einzelnen hochgeladenen Bild auf Flickr, jeder Twitter-Nachricht, jedem Blogpost, jedem Forumseintrag, jedem Statusupdate macht ein User genau das; er teilt anderen mit: «Schaut her, das finde ich wichtig!» Filtern und Bedeutungszuweisung sind an sich nichts Neues. Neu ist, dass beide nicht mehr primär durch Spezialistinnen und Spezialisten in Redaktionen, Museen oder Archiven ausgeführt werden, sondern zur Alltagsanforderung für grosse Teile der Bevölkerung geworden sind, unabhängig davon, ob diese über die materiellen und kulturellen Ressourcen verfügen, die nötig sind, um diese Aufgabe zu bewältigen.

Fokussieren wird wertvoll

Angesichts der Flut von Informationen, mit der wir uns heute tagtäglich konfrontiert sehen, sind die Fokussierung von Aufmerksamkeit und die Reduktion unüberblickbarer Möglichkeiten auf etwas Konkretes eine produktive Leistung, so banal jede dieser Mikrohandlungen im Einzelnen auch sein mag, auch wenn es sich zunächst nur um die Fokussierung der eigenen Aufmerksamkeit handelt. Der Wert dieser oftmals sehr kleinen Handlungen liegt darin, dass sie Elemente aus dem gleichförmigen Strudel der Unübersichtlichkeit herausgreifen. Das so Hervorgehobene erfährt eine Aufwertung durch den Einsatz einer Ressource, die sich nicht vervielfältigen lässt, die ausserhalb der Welt der Informationen steht und für jeden Einzelnen unabänderlich beschränkt ist: die eigene Lebenszeit. Jedes Statusupdate, das nicht durch eine Maschine erstellt wurde, bedeutet, dass jemand seine Zeit investiert hat, und sei es nur eine Sekunde, um auf dieses – und nicht etwas anderes – hinzuweisen. So geschieht eine Validierung des im Übermass Vorhandenen durch die Verbindung mit dem ultimativ Knappen, der eigenen Lebenszeit, dem eigenen Körper. Mag der dadurch generierte Wert noch so klein oder diffus sein, er ist in Anlehnung an Gregory Batesons berühmte Definition von «Information» der Unterschied, der den Unterschied im Strom der Gleichwertigkeit und Bedeutungslosigkeit macht.

Durch Referenz entsteht Sinn

Als alltägliche Handlungen, die schon fast beiläufig geschehen, schaffen sie allerdings meist nur sehr schwache, kurzlebige Unterschiede. Doch sie finden nicht bloss einmal statt, sondern immer wieder. Sie addieren sich, stellen Verbindungen her zwischen den vielen Dingen, auf die Aufmerksamkeit gelenkt wird. So werden Wege durch die Unübersichtlichkeit gelegt. Diese Wege, die beispielsweise dadurch entstehen, dass auf Verschiedenes nacheinander hingewiesen wird, dienen ebenfalls dazu, Bedeutung zu produzieren und zu filtern. Dinge, die potenziell in vielen Zusammenhängen stehen können, werden in einen einzigen, konkreten Zusammenhang gebracht. Referenzialität ist heute also ein Grundmuster der Sinngebung, sowohl im privaten wie im öffentlichen Raum, in der Populärkultur wie auch in der Kunst.

Prof. Dr. Felix Stalder (felix.stalder@zhdk.ch) ist Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung an der ZHdK. Sein Buch «Kultur der Digitalität» beschreibt die gesellschaftlichen Veränderungen, welche die Digitalisierung mit sich brachte.
Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
André Rottmann, Reflexive Bezugssysteme. Annäherungen an den «Referenzialismus» in der Gegenwartskunst, Texte zur Kunst, Heft Nr. 71, «Künstler Künstler», Berlin September 2008.
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