Schweiz ist überall oder vom Vorteil eines Austauschsemesters in 10 Minuten
Es ist eines der Highlights des Studiums und gehört in den CV jeder angehenden Weltbürgerin: das Auslandsemester. Doch trägt es wirklich so viel zu Weisheit und Welterfahrung bei, wie es verspricht? Sprechen nicht Nachhaltigkeitsgedanke und Digitalisierung dafür, dass Mobilität heute vor allem Kopfsache sein sollte? FRANZISKA NYFFENEGGER und KATHRIN PASSIG spielen in ihrem Essay ein ungewohntes Szenario durch.
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In der Eingangshalle des Campus Toni-Areal werben grosse Plakate für eine Woche der Nachhaltigkeit. Wir haben nur eine Welt und unser Fussabdruck bringt sie in Gefahr. Eine Serviette sollen wir brauchen, wenn wir in der Toni-Molki essen, und nicht zwei oder drei, Abfall trennen, PET in die Tonne, Papier auf den Stapel, und auf der Dachterrasse wächst Gemüse, das hilft dem Klima.
Uneingelöstes Versprechen der Mobilität
In der Zeitung steht, Flugreisen gehörten zum Schlimmsten, was wir der Welt antun könnten. Das bestätigen gemäss SRF Regionaljournal Zahlen der ETH, deren Mitarbeitende jährlich 5000 Flugkilometer zurücklegen und alle zusammen pro Jahr insgesamt 5100-mal um die Welt fliegen. Der Hochschulleitung sind diese Zahlen etwas unangenehm, doch Vorschriften machen möchte sie nicht. Es muss schon jeder selbst wissen, wie viel Vogelperspektive für seine Arbeit notwendig ist.
In der Internationalisierung liegt die Zukunft; nur wer die Welt kennt, wird in ihr tätig sein können, sagen die Websites von Bildungsstätten aller Art. Internationale Aktivitäten und Mobilitätsprogramme gehören allenthalben zum Angebot. Das Austauschsemester bürgt im Lebenslauf für internationale Kompetenz. Und doch löst die Mobilität im Raum nur bedingt ein, was sie verspricht.
Im Ausland erfahren, was man schon weiss
Glaubt man den Berichten, die nach einem Austauschsemester an der ZHdK einzureichen sind, lassen sich auf diesem Weg keine Erkenntnisse gewinnen, die man nicht auch in jedem Reiseführer oder in allen früheren Heimkehrerberichten hätte nachlesen können. Oder in den Worten von Peter Bichsel: «Auf jeden Fall erzählen alle dasselbe, und alle erzählen Dinge, die sie vor der Reise schon wussten; und das ist doch sehr verdächtig.» Wenn die Studierenden anderswo etwas lernen, dann vor allem dies: wie es zu Hause eigentlich ist. Aufwand und Ertrag stehen in einem schiefen Verhältnis, sogar wenn die Anfahrt im Zug erfolgt.
Aufenthalte im Ausland, so die weitverbreitete These, fördern kulturelle Offenheit und Toleranz, schaffen Verständnis für das Andere und Fremde, öffnen den Horizont und einen sogenannten dritten Raum. In der Realität scheitern Begegnungen hingegen bereits an fehlenden Sprachkenntnissen. Austauschstudierende bleiben – oft durch das Kursprogramm oder die Unterbringung bedingt – weitgehend unter sich. Der dritte Raum ist der Raum der Expats, der Privilegierten, die es sich leisten können, wegzugehen, sich freiwillig, für kurze Zeit und ohne äussere Notwendigkeit dem Unbekannten zu stellen.
Mobil im Kopf statt im Raum
Schon die seit der Renaissance übliche Grand Tour der Adelssöhne durch Mitteleuropa und Italien diente weniger der Bildung als «der Verfeinerung von Manieren, allgemein dem Erwerb von Weltläufigkeit, Status und Prestige» (Wikipedia). Daran hat sich nichts geändert – wenn überhaupt, dann spielt der Bildungsaspekt eine noch geringere Rolle als damals: Es ist heute leichter als im 18. Jahrhundert, sich jede gewünschte Information über fremde Einrichtungen, Gewohnheiten und Lebensweisen zu verschaffen, ohne aus dem Sessel aufzustehen. Das Internationale ist längst im Nationalen angekommen. Für das «Interesse am Fremden» und die «Erfahrung des Andern» braucht es keine Flugreisen, keine Austauschsemester, keine Mobilitätsprogramme, sondern einzig offene Augen und den Willen zum Wissen. Denn können Schweizer Kunststudierende von Kunststudierenden in China wirklich mehr über fremde Welten erfahren als von einem Schweizer Elektriker und von einer venezolanischen Caféangestellten, genau dort, wo wir nur eine Serviette brauchen sollen, nicht zwei oder drei?
Aber Nachhaltigkeit ist nicht durch Appelle an die Vernunft durchsetzbar, sondern nur dort, wo sie gleichzeitig Statusgewinne bringt. Wer hier also mehr als nur Servietteneinsparungen erreichen will, müsste das Nichtverreisen cool machen und für Mobilität im Kopf eintreten statt für Mobilität im Raum.
Im Ohrensessel die Welt erkennen
Vorarbeiten dazu gibt es schon, etwa von Pierre Bayard, der ein ganzes Buch darüber geschrieben hat, dass man über einen Ort am besten nachdenken kann, indem man ihn nicht bereist. Man könnte sich ein Beispiel an Kant nehmen, der Königsberg nie verlassen hat und aus dem doch etwas geworden ist. Oder beherzigen, was der Autor und Journalist Thomas Kastura in seinem Buch über Reisen in die Polarregionen der Erde darlegt: «Ich bestreite, dass sich im Eis höhere Erkenntnisse erlangen oder entsprechende Ersatzhandlungen vollziehen lassen. Dazu braucht es keine Flucht ins Eis. Jeder Gedanke, der einen in den Polarregionen anweht, kann auch woanders gedacht werden. […] Mein Rat: Begeben Sie sich direkt in den Ohrensessel. Gehen Sie nicht über den Pol. Ziehen Sie keine Selbsterfahrungen ein, die nur das wiedergeben, was Sie ohnehin schon über sich und die Welt zu wissen meinen.»
Bei aller Kritik am angeblichen Nutzen von Austauschsemestern bleibt offen, wie nützlich es trotz alldem sein mag, etwas über das eigene Zuhause zu lernen. Möglich ist auch, dass die Tonalität vieler Rückkehrerberichte in erster Linie dem Format und der Forderung geschuldet ist. Eine ehrlichere Werbung für das Austauschsemester und ein rationalerer Umgang mit dem, was dort tatsächlich passiert und möglich ist, wären erste Schritte. Das Berichteschreiben indes können wir schon jetzt einer Maschine überlassen.
Kathrin Passig, Autorin und meist unterwegs, hat die ZHdK von September bis Dezember 2014 als Observer in Residence beobachtet. Über die Schweiz hat sie dabei nicht so viel gelernt, aber immerhin einiges geschrieben.