Grenzerfahrungen des Denkens

Lisette H., feiner Strumpf aus Varek, Bördchen aus Baumwolle, 1901, 40 × 10,5 cm, mit Streichholz gestrickt. Sammlung Rheinau, Baudirektion des Kantons Zürich, Immobilienamt, Inventar-Nr. 1443.2. Fotos: Jacqueline Fahrni, © ZHdKLisette H., Varekhut, geflochten, gehäkelt, Hutband aus Matratzenüberzugsstoff, um 1902, 13 × 26 × 17 cm. Sammlung Rheinau, Baudirektion des Kantons Zürich, Immobilienamt, Inventar-Nr. 1443.2.Lisette H., Handtasche aus Varek, um 1900, gehäkelt, geflochten, Henkel aus Matratzenüberzugsstoff, 16 × 35 × 5,5 cm. Sammlung Rheinau, Baudirektion des Kantons Zürich, Immobilienamt, Inventar-Nr. R 1443.6.Lisette H., Kinderjäckchen, um 1900, aus Putzfäden gestrickt, braungoldenes Band als Verzierung eingeflochten, 29 × 34 cm. Sammlung Rheinau, Baudirektion des Kantons Zürich, Immobilienamt, Inventar-Nr. R 1443.4.

Grenzerfahrungen des Denkens

Eine Kulturanalyse von Kunst und Wahnsinn

Gut zehn Jahre lang hat sich Katrin Luchsinger intensiv mit Werken auseinandergesetzt, die unter besonderen Umständen entstanden sind: in psychiatrischen Anstalten der Schweiz. Aus dieser grundlegenden Forschung ist ihre Doktorarbeit entstanden – eine Studie mit Strahlkraft auf Kulturgeschichte, Medical Humanities und Cultural Studies.

VON JANINE SCHILLER
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Gegen das Vergessen von Werken, die in psychiatrischen Anstalten der Schweiz um die Jahrhundertwende entstanden sind, schreibt Katrin Luchsinger an. Und gegen eine Romantisierung des Zusammenhangs von Kunst und Wahnsinn. «Mir ist es wichtig, weder das Werk noch die Urheberin oder den Urheber zu mystifizieren», sagt die Forscherin, die seit 17 Jahren an der Zürcher Hochschule der Künste unterrichtet. Zu komplex ist der Austausch zwischen experimenteller Psychologie und bildender Kunst in dieser Umbruchszeit, zu tiefgreifend der psychiatrische Zugriff auf Insassen wie auf ästhetische Kategorien, als dass einfache Antworten auf die Frage, was diese Werke auszeichnet, möglich wären. Um herauszuschälen, was die heterogenen Objekte wie etwa gestrickte Kunst, technische Zeichnungen oder gezeichnete Bücher ausmacht – ausgeschlossen aus den Diskursen der Zeit und ohne die Möglichkeit, ein breites Publikum direkt anzusprechen –, war viel Grundlagenarbeit notwendig. Am Beginn der Forschung stand ein Schlüsselerlebnis: «Ich kam auf die Klosterinsel Rheinau, auf der die ehemalige Pflegeanstalt eben geschlossen worden war. In der leer geräumten Klinik stiess ich auf eine grosse Sammlung von Objekten, die – zusammengetragen und in Schränken versorgt – bislang verborgen gewesen war. Ich war überwältigt von den vielen berührenden Werken. Und ich wusste, aus dem Material lässt sich ganz viel machen.»

«Mir ist es wichtig, weder das Werk noch die Urheberin oder den Urheber zu mystifizieren.» Katrin Luchsinger

Eigentlich hatte die ausgebildete Kunst- und Zeichnungslehrerin, die im Anschluss Heilpädagogik studiert und neun Jahre im therapeutischen Bereich gestalterisch mit Kindern gearbeitet hatte, genug. Sie hatte eben ihr Studium in Kunstgeschichte und Psychologie abgeschlossen und unterrichtete künftige Werklehrerinnen und Werklehrer. «Ich hatte genug. Ich dachte, mit den drei Ausbildungen reiche es langsam. Aber die Objekte und Werke waren so unglaublich dicht, da steckte so vieles drin, was ich wissen wollte.»

Bilder verhandeln den Ort ihrer Entstehung

Nach diesem Fund im ehemaligen Kloster und mit finanzieller Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds SNF führte Katrin Luchsinger mit einem Team des Institute for Cultural Studies der ZHdK zwei Forschungsprojekte mit dem Titel «Bewahren besonderer Kulturgüter I und II» durch. Von 2006 bis 2008 und 2010 bis 2014 entstand so eine Bilddatenbank. Wie viele Sammlungen gibt es in der Schweiz? Was ist in ihnen enthalten? Wie sind sie zugänglich? In ihrer Dissertation tastete Katrin Luchsinger ab, wer unter den Psychiaterinnen und Psychiatern sich für diese Werke interessierte, wer sie gesammelt, wer darüber geschrieben hatte und wie die Werke eingeordnet worden waren. «Ob all des Kontexts fällt es manchmal schwer, zu den Kunstwerken durchzudringen», sagt Luchsinger. Sie will die Werke aus den naturwissenschaftlich gesetzten Diagnosen herauslösen und den kunsthistorischen Blick auf die Arbeiten und die Produktionsbedingungen schärfen. «Die wirkliche Knochenarbeit bestand darin, herauszufinden, was die Klinik für ein Ort ist. Was sind das für Anstalten? Was gibt es für Regeln? Wie sieht eine sogenannte Behandlung aus?» Sie kämpft sich durch den verwobenen gesellschaftlichen Kontext, um zu rekonstruieren, wie es den aus den Diskursen ausgesperrten Anstaltsinsassinnen gelang, den Ort, an dem ihr Werk entstand, auf ästhetischer Ebene zu verhandeln. Mit dem Eintritt in die psychiatrische Anstalt gaben Insassen um 1900 ihre Bürgerrechte ab, sie wurden entmündigt.

Spurensuche im Klinikalltag

Wie konnten die Insassinnen und Insassen also selber zu Wort kommen? Wie an der «Produktion von Wissen», wie es Michel Foucault formuliert hat, teilhaben? Es gilt, die Bedingungen, unter denen die Werke entstanden sind, zu verstehen, den «Resonanzraum», wie ihn Luchsinger nennt: «Man muss versuchen herauszufinden: Wie war der Tageslablauf, woher kam das Material, wo wurde gearbeitet?» In unermüdlicher Kleinarbeit hat Luchsinger versucht, diesen Alltag zu rekonstruieren, der als Referenzsystem für das Einordnen der Werke so wichtig ist. Teilweise waren die Akten eingeschwärzt; zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der ehemaligen Insassinnen und Insassen ist eine gründliche Erforschung nach wie vor erschwert. Viele Archive enthalten Lebensläufe, die Patientinnen und Patienten verfassten, Beschreibungen und Zeichnungen der Psychiater und Fotografien. «Diese alten Archive sind voller Sinnproduktion!», meint Luchsinger. Ganz im Gegensatz zu den heute gängigen Taxpunkten und den medikamentös ruhiggestellten Patienten. Dies ist auch der Grund, warum sie sich dafür einsetzt, diese besonderen Kulturgüter zu bewahren. Für die Patientinnen und Patienten indes gab es damals wie heute meist keinen Weg zurück ins Leben vor der Anstalt. Dies macht deutlich, wie wichtig die Objekte für sie wurden.

Werke für die Öffentlichkeit

Erste Kunstsammlungen aus der Psychiatrie wurden um 1870 angelegt. Psychiater, Psychologinnen und auch Künstler setzten sich intensiv mit den Bildvorstellungen auseinander. Später, nach 1910, fragte man sich: Ist unsere Epoche schizophren? Die Innenperspektive aus den Anstalten, erste Ausstellungen von «Irren-Kunst», die Rezeption in der Kunstwelt der Avantgarde, insbesondere in der Primitivismusbewegung – sie haben hineingewirkt in die Kliniken, und es gab Wechselwirkungen zwischen Kunstwelt und Psychiatrie. Trugen die Zeichnungen aus den Anstalten zu diesen Interessenfeldern bei? Luchsinger entdeckte, dass die Werke Hinweise enthielten, dass sie gedruckt, veröffentlicht, in ein Museum überführt werden sollten: «Man kann nicht Menschen entmündigen, sie isolieren und wegsperren und glauben, dies habe auf ihr Werk keinen Einfluss.» Weil man nicht nicht antworten kann, ausser man resigniert.

Die Werke der Klinikinsassinnen und -insassen enthalten Hinweise, dass sie gedruckt, veröffentlicht, in ein Museum überführt werden sollten.

Die Beschäftigung mit Werken aus der Psychiatrie hatte im Nachgang der Documenta 5 von Harald Szeemann 1972 Konjunktur; an der Biennale 2013 spielte C.G. Jungs «Rotes Buch», sakral in der Eingangshalle inszeniert, eine bedeutende Rolle. Luchsinger hofft, dass darüber hinaus die Aufarbeitung und Inventarisierung der Archive und Museen, die seinerzeit «Irren-Kunst» in Deutschland, Frankreich, Italien und Grossbritannien sammelten, vermehrt einsetzt, damit die internationale Diskussion darüber Fahrt aufnimmt. Die Schränke, die sie 2004 auf der Klosterinsel öffnete, kann sie mit der Publikation ihrer Dissertation an der Universität Zürich Ende 2016 vorerst schliessen und bilanziert: «Ein Bild ist nie Ausdruck einer Geisteskrankheit. Es verhandelt die Situation seiner Entstehung und ist immer eine komplexe Kulturleistung.» Ihre umfassende kulturanalytische Studie birgt die Kraft, in andere Feldern auszustrahlen: Kulturgeschichte, Medical Humanities, Cultural Studies. Und ethische und ästhetische Diskussionen anzuregen.

Alltagsmaterial zu Kunst geformt
Die Abbildungen zeigen Werke, die Lisette H. (1857–1924) aus Varek schuf. Varek ist eine Alge, die gewaschen werden kann. Sie wurde als Füllmaterial für die Schlafsäcke in den Isolierzellen verwendet. Das Varek, das nach dem Waschen und Trocknen zusammenklebte, wurde wie auch Rosshaar von Patientinnen wieder «locker gezupft». Auch Lisette H. zupfte Varek als Arbeitstherapie. Sie zweigte sich etwas von dem Material ab, um feine Strümpfe, Hüte, eine Handtasche oder Kinderjäckchen zu stricken oder zu häkeln – Reminiszenzen an ihr früheres Leben als Bürgersfrau, Hausfrau und Mutter dreier Kinder.

Luchsinger Katrin, Die Vergessenskurve: Werke aus psychiatrischen Kliniken in der Schweiz um 1900. Eine kulturanalytische Studie, Chronos, Zürich 2016.

Janine Schiller (janine.schiller@zhdk.ch), Kulturwissenschaftlerin und Architekturhistorikerin, ist Dozentin in der Vertiefung Kulturpublizistik im Master Art Education, Departement Kulturanalysen und Vermittlung.
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