Dozierendenporträt: Rahel Hadorn
Der Bezug zum eigenen Körper und zum Rhythmus ist elementar für eine Sängerin oder einen Sänger. Pop- und Jazzgesangsdozentin Rahel Hadorn hört denn auch sofort, wenn ihre Studierenden innerlich nicht mittanzen, wenn sie singen. Im Unterricht der langjährigen ZHdK-Dozentin wird nicht nur an der Technik gefeilt, sondern auch Natürlichkeit geübt.
VON CHRISTOPH MERKI
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Leichte Sandalen trägt sie. «Selbstverständlich bin ich zu Fuss gekommen», sagt sie bei unserm spätsommerlichen Lokaltermin im Stadtzürcher Café Hubertus. Rahel Hadorn ist eben nicht nur Sängerin, sie ist auch eine grosse Spaziererin und Geherin. Wo sie zu Fuss gehen kann, da geht sie zu Fuss. Tagen etwa die Dozierenden Jazz und Pop der ZHdK an ihrem Jahresmeeting auf dem Üetliberg, nimmt die Hadorn nicht einfach das Bähnlein in die Höhe – lieber geht sie zu Fuss, direkt von ihrer Wohnung aus, nah beim Zürcher Goldbrunnenplatz.
Das hat bei der 49-jährigen Stadtzürcherin auch mit ihrer Lebensphilosophie zu tun. «Spazieren hat etwas wunderbar Subversives», erklärt sie. «Ich unterstütze dabei niemanden – weder ein Fitnesscenter noch eine Firma.» Am Ende wirkt Rahel Hadorn wie eine, die sich nicht vereinnahmen, nicht aus der Ruhe bringen lassen will.
Ruhiger Grundgroove
Dies spiegelt sich auch in ihrem künstlerischen Lebenslauf. Nach Abschluss des Gesangsstudiums an der Swiss Jazz School Bern war sie mit ihrem Quartett Acoustic Stories und ihrem Album «Live at Moods» (1997) in aller Munde. Als «vielversprechenden neuen Stern am Schweizer Vokaljazz-Himmel» sah sie der ehemalige «Tages-Anzeiger»-Musikkritiker Johannes Anders. Freilich, in den Folgejahren ist es bei Hadorn an den künstlerischen Fronten dann verhältnismässig ruhig geblieben – was damit zusammenhing, dass sie alleinerziehende Mutter war, wie sie sagt. Und auch damit, nun ja, dass sie sich eben nicht aus der Ruhe bringen lassen will. Nicht mal von den eigenen Karrieremöglichkeiten. «Der Grundgroove muss bei mir ruhig sein.»
Rahel Hadorn wirkt wie eine, die sich nicht vereinnahmen, nicht aus der Ruhe bringen lassen will.
Und da ist noch etwas anderes. «Ich liebe das Unterrichten extrem», sagt Hadorn. In den vielen Jahren ihres Unterrichtens – seit zwei Jahrzehnten lehrt sie an der ZHdK und deren Vorläuferinstitutionen – hat Hadorn Dutzende von künftigen Jazz- und Popsängerinnen und -sängern durchs Studium begleitet. Und wenn Hadorn den Studierenden auch nichts aufoktroyieren mag: Sie hat sehr wohl ein eigenes künstlerisches Credo. Schon mit «Acoustic Stories» hatte sie Perlen aus dem Great American Songbook interpretiert. In ihren eben frisch eingespielten neuesten Duoaufnahmen mit dem Zürcher Pianisten Mario Scarton spinnt sie diesen Faden weiter: Wir hören Evergreens wie etwa das uralte «Honeysuckle Rose», einst vom gutgelaunten New Yorker Stride-Pianisten Fats Waller 1928 zu Ehren und vor allem zu Freuden gebracht. Und gerade dies mag Rahel Hadorn: «Die alten Songs haben so etwas Fröhliches! Ich habe früher übrigens auch einmal Charleston getanzt, was dazu passt.»
Innerlich mittanzen muss sein
«Honeysuckle Rose» also. Noch bevor das Klavierintro ertönt, hört man Hadorns Fingerschnippen, ihre Stimme. «One … two … one, two, three, four …» Da ist ein Swingfeel in der Luft. Da ist die Vorahnung von Rhythmus. Und alsbald wird die Hadorn gleichsam durch den alten Song spazieren, leichten Fusses, mit dem Beschwingten vielleicht der ehemaligen Charlestontänzerin. «Wenn ich singe, läuft innerlich immer ein Schlagzeug mit», sagt sie. Und auch: «Ich höre es sofort im Unterricht, wenn eine Sängerin, ein Sängerin innerlich nicht mittanzt, es darum nicht groovt.» Und sie erinnert sich an eine Studierende, mit der sie im Unterricht zwar gesungen, aber noch mehr getanzt hat. «Die junge Sängerin hatte überhaupt keinen Bezug zu ihrem Körper und zum Rhythmus. Manchmal wärs mir lieber, wenn sich manche Studierende mehr mit Selbsterfahrung befassen würden als mit Gesangstechnik.»
Hadorn wirkt in ihren eigenen neuen Aufnahmen völlig unaffektiert, unaufgesetzt, unverbogen – kurz: natürlich. Und doch hört man in ihrem Gesang jede Menge Technik: Da kann sie mit ihrer warmen, vollen Altstimme zuerst aus der Tiefe des Körpers heraus singen, Sekunden später aber modulierend in die Höhe steigen wie Ella Fitzgerald (in «Makin’ Whoopee», das Ella 1954 im Duo mit Pianist Ellis Larkins interpretierte). Hört man dann auch noch Hadorns Interpretation von «The Nearness Of You», dem Hoagy-Carmichael-Klassiker von 1938, hört, wie sie Nuancen nachspürt in einer Kunst der Intimität – dann merkt man: Sie kennt die ganze Gesangskunst rund ums Great American Songbook, die einer Sarah Vaughan oder Nancy Wilson, einer Dianne Reeves oder Dee Dee Bridgewater. Hat viel Technik.
Musik darf nie geübt klingen
Ein Changieren zwischen Technik und Natürlichkeit spielt nun auch in ihrem Unterricht eine grosse Rolle. Die Technik: «Wenn man ein ‹Time Feel› wie die grosse Soulsängerin Aretha Franklin entwickeln will, muss man sehr, sehr viel üben!» Das Natürliche: «Musik darf am Ende nicht geübt klingen. Es geht ums Feeling.» Auch da weist Aretha Franklin den Weg: «Sie konnte einfach hinstehen, einen Song singen – und die Leute waren hingerissen! Sie konnte das noch sozusagen mit den Händen in den Hosentaschen!»
«Ich arbeite mit dem, was aus den Studierenden herausklingt. Ich höre meinen Studierenden eigentlich fünf Jahre zu, bis sie wieder gehen.»
All diese Eigenschaften und Überzeugungen von Rahel Hadorn – die Freude am Vergnüglichen und am Rhythmus in der Musik, die Skepsis gegenüber zu viel Technik – verdichten sich bei ihr in einem einzigen Wort: dem Song. «Der Song ist das Allerschönste», meint sie. «Ein Song meint: eine Message, ein Feeling, ein Groove. Ich will keine Künstlichkeit. Und es darf nicht nur ‹da oben› stattfinden.» Und sie zeigt auf ihren Kopf.
Da sind wir schon fast wieder bei der Spaziergängerin und Geherin Rahel Hadorn. Auch spazierenderweise mag sie frei werden von dem, was «da oben» Kontrolle will – eine Freiheit gewinnen, die nach ihren eigenen Worten gerade auch ihrem Unterricht nur guttut: «Spazieren ist wie eine Meditation. Beim Gehen werde ich auf gute Weise innerlich leer: Das lässt mich dann offen auf die Studierenden zugehen. Ich komme ja nicht mit einer riesigen Ladung Unterrichtsmaterial. Ich arbeite mit dem, was aus den Studierenden herausklingt. Ich höre meinen Studierenden eigentlich fünf Jahre zu, bis sie wieder gehen.»