Jörg Scheller, was ist moralische Fantasie?

Eine typische Reaktion auf die (all)gegenwärtigen Krisen, ob virtuell-finanzieller oder handfest-kriegerischer Art, ist der Rückzug auf vermeintlich Sicheres und Bewährtes: Nationalstaat, Religion, Tradition, Autorität. Nun ist gegen Konservatismus als solchen nichts einzuwenden. In seinen besten, bedächtigen Formen konterkariert er die Brummkreiselei eines zunehmend neurotischen Konsumismus. Doch viele der rundum reüssierenden populistisch-konservativen Bewegungen, ob in Warschau, Berlin oder Ankara, sind de facto nicht konservativ, sondern regressiv-aggressiv. Konfrontiert mit der Komplexität einer globalisierten, hybriden Welt, gebricht es ihnen vor allem an einem: moralischer Fantasie. Sie können oder wollen sich nicht vorstellen, was die langfristigen Konsequenzen ihres Regress- und Ignoranz-Tamtams sein werden. Dabei könnten sie sich sogar von einem konservativen Denker inspirieren lassen. Der Philosoph Günther Anders, nicht gerade ein Tattooveganer mit Hipsterbart und Queer-Studies-Diplom, verstand unter moralischer Fantasie eine Erweiterung des «Volumen[s] unserer Vorstellung und unseres Fühlens». Um dies zu erreichen, plädierte er für unkonventionelle Exerzitien wie «moralische Streckübungen» und «Überdehnungen [der] gewohnten Phantasie- und Gefühlsleistungen». Man kann nur hoffen, dass er von den Konservativen als Personal Trainer wiederentdeckt wird.

Dr. Jörg Scheller ist Kunstwissenschaftler und leitet den Bereich Theorie im Bachelor Kunst & Medien am Departement Kunst & Medien der ZHdK. Das Volumen seiner Vorstellungen und seines Fühlens erweitert er unter anderem als Musiker mit dem Heavy Metal Lieferservice Malmzeit, als Autor für Zeitschriften, Magazine und Buchverlage sowie als Bodybuilder in Teilzeit.
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