Wie Welten entstehen
Nostalgische und virtuelle Modellwelten im Museum für Gestaltung
Wo «Modell» draufsteht, werden kleine Eisenbahnwaggons, Miniaturwelten und Architekturmodelle aus Karton oder Sperrholz erwartet. Dass die Modellthematik ein weit vielfältigeres Spektrum eröffnet, zeigt die Ausstellung «Welten bauen – Modelle zum Entwerfen, Sammeln, Nachdenken», die zum Staunen und zum Spielen anregt.
VON MIRJAM STEINER
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Edle Oberflächen, gedämpftes Licht, an den Wänden Kunst. Das stilvolle Ambiente lädt zum Verweilen ein – am liebsten würde man sich setzen und einen Drink bestellen. Und dennoch: Irgendetwas irritiert. Das Material des Interieurs wirkt verblüffend glatt, der Raum etwas gar klein. Was eingangs der Ausstellung im Museum für Gestaltung gezeigt wird, ist die auf 85 Prozent verkleinerte Schwester der Kronenhalle-Bar. «Krönlihalle-Bar» heisst das Kunstwerk des Zürcher Kollektivs Krönlihalle, und es lässt wie sein grosses Vorbild ein glanzvolles Ambiente aufleben. Und dies obwohl das grüne Saffianleder, das Mahagoniholz und die bronzenen Tischfüsse durch Gold-, Marmor- und Holzfolie ersetzt worden und die Kunstwerke von Miró, Matisse und Picasso einfachen Kopien gewichen sind. Imitat und Déjà-vu statt stilvoller Einzigartigkeit. Was bewirkt die Verkleinerung? Schrumpfen die Besucherinnen und Besucher analog der modellhaften Situation? Oder wachsen sie über sich hinaus? Auf jeden Fall kreiert die «Krönlihalle-Bar» ein besonderes Ambiente, eine Welt des «Gewissermassens».
Tatsächlich: «Die Simulation ist ein wesentlicher Bestandteil vieler Modelle», so Andres Janser, Kurator der Ausstellung. Das Spiel mit dem Als-ob führt auch die Visualisierung des Bürokomplexes in der Wüste von Schardscha von Zaha Hadid vor. Sand, Sonnenlicht und die stromlinienförmige Architektur – alles sieht täuschend echt aus. Computergestützte Verfahren, sogenannte Computer-Generated Imagery (CGI), machen den virtuellen Rundgang durch die Luxusanlage beinahe zum 1:1-Erlebnis.
Faszinations Miniatur oder die Welt steht still
Täuschend echt sehen auch die Dioramen des Modellbauers Marcel Ackle aus. In seinen Schaukästen schafft er detailreiche Szenerien im Kleinformat: Millimeterdünne Schieferplatten, Minibacksteine und der Verwitterung ausgesetzte Naturmaterialien sind massstabgetreu verkleinert, Lichteinfall und Hintergrund sind stimmig und schaffen die fast perfekte Illusion von Realität. Was macht diese Miniaturwelten so faszinierend? «Die Miniatur ist ein Fundort der Grösse», hat Gaston Bachelard bereits 1957 in «Poetik des Raumes» bemerkt. Mit dem Eintauchen in die Wirklichkeit des Kleinformats öffnet sich für kurze Momente die nostalgische Welt der Kindheit, des hingebungsvollen Versunkenseins ins Spiel, wenn die Zeit stillzustehen scheint, der Raum überblickbar ist und fantasiereich erkundet werden will.
Modelle wollen imaginiert werden und rufen bei Betrachterinnen und Betrachtern oft das Verlangen nach haptischem Erleben hervor. 1:5000 beträgt der Massstab des Schlosses Neuschwanstein als Kartonmodell. Einen wahrhaften Gulliver-Moment löst das Betrachten des Minischlosses aus, denn für die vertiefte Betrachtung bräuchte es eine Lupe oder zumindest die Möglichkeit, das winzige Objekt in die Hand zu nehmen, um es von Nahem betrachten zu können. Präzisionsmodellbauer wie Thomas Grüninger arbeiten mit aus mehreren Tausend Teilen bestehenden gekauften Ausschneidebögen und «supern», wie es im Fachjargon heisst, die Modelle mit eigens entworfenen detailgetreuen Ergänzungen – im 0,1-Millimeter-Bereich, wohlgemerkt. Liliput lässt grüssen!
Sind Modelle belastbar?
Kraft der Modelle
Während Windkanalmodelle den (möglichen) Ernstfall proben, führt die fotorealistische Bilderserie «Flatland» von Aydın Büyüktaş unmögliche Modellwelten vor. Mehrdimensionale Ansichten von Strassen, Plätzen und Gebäuden in Istanbul, bei denen die Frontalansicht nahtlos in die Vogelperspektive übergeht, brechen mit unseren Sehgewohnheiten. Die Bildmanipulationen erzeugen einen starken körperlichen Sog, fast möchte man sich in die Strassenschluchten hineinfallen lassen.
Harmlos sind Modelle also nicht! Denn ihr Potenzial umfasst mehr als Repräsentation (Modelle «für») und Vorbildcharakter (Modelle «von»). Auch das führt der vielfältige Ausstellungsparcours vor, der einen weiten Bogen von Design, Architektur, Freizeitkultur, Kunst, Film und Wissenschaft spannt. Modelle sind lebensgefährlich: Wenn in der Krimireihe «Polizeinotruf 110» der Innenarchitekt Spielzeugmodelle baut, die sich am Schluss als Arbeitsmodelle für sein Verbrechen herausstellen, sind sie angsteinflössend, wenn sie wie in Stanley Kubricks «Shining» den Wahn des Protagonisten begleiten, sind sie Zeugen, wenn sie zur Rekonstruktion eines Verbrechens eingesetzt werden wie im Verhandlungssaal des Den Haager Tribunals, wo ein Modell des Tatorts eingesetzt wird, um den Anschlag auf den ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri nachzuvollziehen, geben sie Aufschlüsse zum Geschehen. Die unbändige Kraft, die von ihnen ausgeht, macht sie zu aktiven Weltgestaltern. Und genau darin liegt ihre Faszination.
Museum für Gestaltung Zürich, Toni-Areal, Pfingstweidstrasse 96, Zürich
Dienstag–Sonntag 10–17 Uhr, Mittwoch 10–20 Uhr
www.museum-gestaltung.ch