Hans Ulrich Steger (1923–2016)
Kritischer Chronist des Zeitgeistes
Über fünf Jahrzehnte hielt Hans Ulrich Steger Politikern, Wirtschafts- und Gesellschaftsgrössen unerbittlich zeichnerisch den Spiegel vor Augen. Nun ist der unbestechliche Chronist des (gesellschafts)politischen Geistes seiner Zeit abgetreten. PETER VETTER blickt zurück auf einen letzten Besuch beim Mann mit dem gnadenlosen Strich, der sich bis zum Schluss nie scheute, seiner Meinung klar Ausdruck zu verleihen.
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Im Zusammenhang mit dem Projekt der Aufarbeitung des Œuvres Ernst Kellers (1891–1968), des Pioniers der Schweizer Grafik, sind Meike Eckstein und ich auf Hans Ulrich Steger gestossen. Er hatte in der einzigen Publikation, die es zu Keller gibt, einem Katalog des Kunstgewerbemuseums aus dem Jahr 1978, einen sehr einfühlsamen Artikel mit dem Titel «Der ‹Maa› und seine Schüler» verfasst. Wir schrieben ihn in der Folge an und baten um einen Termin. Postwendend kam seine Antwort: «… vielen Dank für Ihre Anfrage btr. Ernst Keller. Ich freue mich, dass nach langen Jahren des Vergessens endlich wieder einmal dieses Pioniers gedacht wird. Ich habe aber einige Fragen zu diesem Projekt und würde gerne zuerst einmal mit Ihnen darüber sprechen. Die Verhochschulung dieser einst weltbekannten Fachschule hat meiner Ansicht nach das Gewicht des Theoretischen auf Kosten des Gestalterischen zu stark verschoben. Das Wort ‹Student› erzeugt bei mir Gänsehaut.»
Dem Pionier Ernst Keller zeitlebens Respekt gezollt
Das war 2011 und sozusagen der Auftakt zu verschiedenen Kontakten, in deren Rahmen wir uns am Departement Design immer wieder mit Stegers Ausbildung bei Ernst Keller oder Kellers Werk beschäftigten. Meike Eckstein und ich besuchten Steger dann in Maschwanden und führten ein langes Gespräch mit ihm. Er hatte eine grosse Sammlung von Arbeiten und weiteren Dokumenten aus seiner Ausbildungszeit, also ab 1941. Zudem führte er auch eine Liste aller Schüler Ernst Kellers und organisierte immer wieder Treffen zwischen ihnen. So gab er uns eine Liste von Ehemaligen, die es uns ermöglichte, rund zwanzig Personen, die bei Ernst Keller gelernt hatten, zu einem Treffen an die Zürcher Hochschule der Künste einzuladen.
Mit der Aussage: «Jetzt möchte ich Ihnen noch dieses ‹Zeugs› zeigen», legte er uns seine Sammlung zur Betrachtung vor. Dabei sagte er: «Jetzt hatte ich sechzig Jahre Zeit zum Sammeln und nun brauche ich nochmals zehn Jahre, um aufzuräumen …» Und so konnten wir mit ihm eine Art faszinierende Zeitreise über einen Zeitraum von mehr als siebzig Jahren erleben und seinen vielfach bissigen, aber auch liebenswerten und immer präzisen Kommentaren folgen.
Doch was machen Nägel in seiner vornehmlich grafischen Sammlung? So ganz nebenbei bemerkte er: «Mein Vater war ja der Architekt der Kunstgewerbeschule [Anmerkung des Autors: Das Gebäude an der Ausstellungsstrasse in Zürich wurde 1933 eröffnet und von Adolf Steger, Hans Ulrich Stegers Vater, und Karl Egender erbaut], und als kleiner Bub bin ich mit meinem Vater auf die Baustelle gegangen und habe die Nägel, die herumlagen, aufgehoben und mitgenommen.»
Wach und kritisch bis ins hohe Alter
Nach diesem Gespräch hatte ich noch verschiedentlich Kontakt mit Hans Ulrich Steger und wir haben ihm auch Arbeiten geschickt, die wir während unserer Recherchen gefunden haben, was ihn jeweils sehr gefreut hat. Umgehend hatten wir wieder eine Antwort von ihm in der Post, und jedes Mal erinnerte er sich an eine weitere Episode oder formulierte interessante Gedanken auch zu aktuellen Themen.
Anfang dieses Jahres während der Abschlussarbeit am Projekt «Ernst Keller» fanden wir einen Brief Stegers an Ernst Keller mit einer brillanten Zeichnung eines Motorrades, auf dem Steger, Keller und Kellers Hund sitzen. Diese sympathische Illustration haben wir Steger geschickt und wir hoffen, dass ihn dies gefreut hat … eine Antwort kam nicht mehr.
Hans Ulrich Steger war ein ganz besonders aufmerksamer Zeitgenosse, der ein Leben lang und auch noch im hohen Alter zu allem und allen engagierte, eigenständige und oft unbequeme Kommentare abgegeben hat.