Moldau – ein Nirgendsort?
Eindrücke und Hintergründe zu einer Exkursion und einem Ausstellungsprojekt in der Republik Moldau
Was hält Gott von Piercings? Macht Not erfinderisch? Ist Geschichte wirklich geschichtlich? Mit Antworten auf diese Fragen waren Fotografinnen und Künstler der ZHdK auf ihrer Reise durch die Republik Moldau, ein Land, das um Identität ringt, konfrontiert. Die Studierenden erkundeten die Hauptstadt Chisinau auf künstlerische Weise und stellten innerhalb kurzer Zeit eine Ausstellung auf die Beine. Sie soll der Beginn einer langfristigen Kooperation sein. Bei einem ersten Gegenbesuch Studierender aus Chisinau stellte sich heraus: Denkwürdige Antworten gibt es auch in der Schweiz.
VON JÖRG SCHELLER
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Tausende ziehen durch die Strassen Chisinaus, rot-gelb-blaue Fahnen wehen im Wind. «Wiedervereinigung!», skandiert die Menge. Polizisten und Soldaten beobachten das Geschehen mit einer Mischung aus Anspannung und Langeweile. Es geht vorbei am Triumphbogen, an der Kathedrale und am Parlament, wo einige verwaiste, mit Absperrband umzäunte Protestcamps stehen. Errichtet wurden sie 2015, nachdem aus dem moldauischen Staatshaushalt rund eine Milliarde Euro verschwunden waren, etwa ein Sechstel des Bruttoinlandprodukts. Und seitdem verschwunden geblieben sind.
Politische und zivilgesellschaftliche Bewegungen formierten sich als Reaktion auf diesen vorläufigen Höhepunkt der Korruption in der Republik Moldau. Als einer der jüngsten und ärmsten europäischen Nationalstaaten ging sie 1991 aus dem Trümmerhaufen der Sowjetunion, der sie seit 1944 angehört hatte, hervor. Nicht erst seit dem Milliardenskandal, hinter dem Oligarchen vermutet werden, kommt das kleine Land nicht zur Ruhe. Es ringt um Identität, ächzt unter einer Vielzahl konfligierender Mentalitäten, Traditionen und Interessen. Manche Bürgerinnen und Bürger ersehnen die Nähe und den Beitritt zur EU, andere liebäugeln mit der starken Hand Russlands. Östlich des Flusses Dnister hat sich die Region Transnistrien bereits 1992 von Moldau losgesagt und wahrt seitdem mithilfe russischer Truppen ihren Autonomiestatus als sozialistische Republik.
Verschwimmende geopolitische Begriffe
Die Demonstrantinnen und Demonstranten wiederum, die an diesem sonnigen Märztag durch die Hauptstadt der Republik marschieren, streben die Wiedervereinigung mit Rumänien an. Moldau war von 1918 bis 1944 ein Teil Grossrumäniens, zuvor gehörte es zum russischen Zarenreich. Damals lebten aber auch viele Deutsche, die sogenannten Bessarabiendeutschen, auf dem heutigen Staatsgebiet, ganz zu schweigen von den Juden – um 1900 war knapp die Hälfte der Einwohner Chisinaus jüdisch. Je tiefer man in die Geschichte Moldaus eintaucht, desto fragwürdiger werden die Begriffe, mit denen oft wie selbstverständlich hantiert wird: Was ist das eigentlich, ein Staat, eine Region, ein Land, eine Kultur, ein Volk? Und ist Geschichte wirklich geschichtlich?
«Moldau ist ein kleiner Garten, der das kleine Dorf Chisinau umgibt.» Wladimir Lortschenkow
«Mit Bedauern stelle ich fest, dass Moldau keinerlei Perspektiven als unabhängiger Staat hat», sagt der Schriftsteller Wladimir Lortschenkow im Gespräch mit dem Autor. «Moldau ist ein kleiner Garten, der das kleine Dorf Chisinau umgibt. Als Kind träumte ich von Moldau, als sei es das Zuhause von Santa Klaus oder ein Eldorado. Dann kehrte ich zurück und erkannte das wahre Moldau. Es ist ein Nirgendsort und ein Niemalsort, ein zutiefst provinzielles Loch wie Macondo.» Lortschenkow, der auf Russisch schreibt und 1979 im damals sowjetischen Chisinau geboren wurde, hat mit «Milch und Honig» (Atrium 2011) einen der wenigen Romane über die heutige Republik Moldau verfasst. Das lesenswerte Buch ist eine schwarzhumorige Groteske, in der verzweifelte Priester und Bauern Kreuzzüge organisieren oder fliegende Traktoren basteln, um irgendwie aus dem Elend herauszukommen. Macht Not also doch erfinderisch? Lortschenkow winkt ab: «Klar sind arme Menschen flexibler. Aber sie gebrauchen die Flexibilität vor allem, um an Essen zu kommen. Deshalb empfinde ich Verzweiflung nicht gerade als Quelle der Inspiration.»
Zivilgesellschaft mithilfe von Kunst aufbauen
Während die Moldauerinnen und Moldauer massenhaft emigrieren – ein Viertel der Bevölkerung lebt im Ausland –, reisten wir, Jörg Scheller und Jyrgen Ueberschär von der Vertiefung Fotografie, im März 2016 mit einer Gruppe Studierender des Bachelors Kunst & Medien für zehn Tage nach Chisinau, um die Stadt auf künstlerisch-experimentelle Weise zu erkunden. Bereits 2014 hatte sich der Autor auf einem Abstecher während einer Rumänienexkursion vor Ort ein Bild machen und Kontakte zu Künstlerinnen und Aktivisten knüpfen können. Insbesondere die Chisinauer NGO Oberliht, hervorgegangen aus einer Künstlervereinigung, beeindruckte durch ihre Professionalität, Dynamik und ihren kritisch-pragmatischen Geist. Mit multi- und transdisziplinären Projekten (unter anderem Aktionen im öffentlichen Raum, Ausstellungen, Vorträgen, Workshops, Performances) agitiert Oberliht gegen die Machtkonzentration in den Händen weniger reicher moldauischer Männer und die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums. Zudem informiert und involviert sie die Bevölkerung Chisinaus, um zum Aufbau der Zivilgesellschaft beizutragen – in der postkommunistischen Zeit hat die Politik diesbezüglich versagt. Nun muss die Kunst ran. Da die ökonomische Situation desaströs und keine Besserung in Sicht ist, kooperiert Oberliht mit internationalen Volunteers und finanziert sich über Gelder der EU sowie diverser Stiftungen.
Chisinau ist eine verwirrende, immens detailreiche Bricolage, ein Hybrid aus verschlungenen Geschichten.
Gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der Kunstakademie Chisinau und Oberliht, namentlich dem Künstler und Kulturmanager Vladimir Us und dem Soziologen Vitalie Sprinceana, durchstreiften wir zunächst die Stadt, diskutierten im Anschluss Bezugspunkte künstlerischer Arbeiten (unter anderem Geldwirtschaft, Architektur, Postkommunismus) und setzten unsere Eindrücke im Kunstraum Zpatiu mit der Ausstellung «I’ll Think about It Tonight: an Artistic Exploration of Chisinau in Seven Days» um. Es galt, binnen kürzester Zeit in einer unvertrauten Umgebung künstlerisch tätig zu werden, «Action in Reflection» (Donald Schön) zu betreiben, Formen der Verständigung in einem fremden Sprachraum zu erproben und mittels diverser künstlerischer Verfahren – Fotografie, Film, Performance, Installation, Grafik – ein komplexes Bild von Chisinau aus der Aussensicht zu vermitteln. Dafür bietet sich die Stadt von sich aus an. Chisinau ist eine verwirrende, immens detailreiche Bricolage, ein Hybrid aus verschlungenen Geschichten: Hier ein armenischer Friedhof, dort ein sowjetisches Monument. Hier ein Fitnesscenter, das 2000 Franken Jahresgebühr verlangt, dort ein Flohmarkt, auf dem alte Frauen die kümmerlichen Reste ihres Hausrats verscherbeln. Hier das hyperkapitalistische Einkaufszentrum Malldova, dort der orientalisch anmutende zentrale Markt. Hier weinberankte, schrebergartenähnliche Wohnsiedlungen, dort der sowjetische Wohnturm Romashka – einstmals Prestigebau, nun ein postapokalyptisch wirkendes Menschensilo, ganze Stockwerke in Trümmern, das Treppenhaus voller leerer Schnapsflaschen und Schmutz.
Begegnungen an den Rändern
Ergänzt wurde die künstlerische Recherche und Produktion in Chisinau durch zwei Exkursionen. Die erste führte nach Transnistrien, wo wir mit orthodoxen Mönchen im Kloster Noul Neamt speisten und belehrt wurden, dass Gott Piercings missbillige. Die zweite in die Westukraine, wo wir die ehemaligen Siedlungen der Bessarabiendeutschen besichtigten. Im Stadtpark von Tarutino erfuhren wir von einem Rentner, dass wir wohl die letzten Reisenden seien, welche die dortigen Marx- und Lenin-Statuen zu Gesicht bekommen hätten – die Regierung sei dabei, sie zu schleifen, klarer Fall von Geschichtsklitterung!
Was für Probleme kann man in einem Land wie der Schweiz denn überhaupt haben?
Da die Exkursion, die Ausstellung und die Workshops, die wir täglich in der Kunstakademie abhielten, überaus positiv und inspirierend verliefen, streben wir eine langfristige Kooperation mit den Partnern aus Chisinau an, etwa weitere Workshops oder Summer Schools. Ein erster Schritt ist bereits gemacht. Beim International Afternoon der ZHdK im Mai dieses Jahres referierten Vladimir Us und Vasile Sitari (Kunstakademie Chisinau), vier Studierende aus Chisinau beteiligten sich mit eigenen, in Zürich angefertigten Exponaten an der Präsentation von Arbeiten aus «I’ll Think about It Tonight» im Aktionsraum und tauschten sich mit den hiesigen Studierenden aus. Viele Fragen kamen dabei auf. Zum Beispiel, was für Probleme man in einem Land wie der Schweiz und an einer so üppig ausgestatteten Kunsthochschule wie der ZHdK denn überhaupt haben könne. Wir versicherten ihnen, dass auch daran kein Mangel bestehe.
Klaus Bochmann et al. (Hg.): Die Republik Moldau. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2012.