Der Die Das Brot

Das einzige Klischee, das ich widerlegen kann, ist ihre Neutralität. Foto: Evan Ruetsch © ZHdK Senf auf Bauch. Foto: Evan Ruetsch © ZHdKVielleicht konservativ-idyllisch? Foto: Evan Ruetsch © ZHdKDie Krawatte. Foto: Evan Ruetsch © ZHdKSchweiz. Foto: Evan Ruetsch © ZHdKMit dem Säbel geht man wählen. Foto: Evan Ruetsch © ZHdKAlphorn Jazz. Foto: Evan Ruetsch © ZHdKWollte den Russen die direkte Demokratie zeigen. Foto: Evan Ruetsch © ZHdKUntitled. Foto: Evan Ruetsch © ZHdK

Der Die Das Brot

Mein Name ist Evan Charles Antoine Ruetsch und früher bestellte meine Mutter unser Brot in der Bäckerei mit der Frage «Der? Die? Das? Brot?» Die Antwort war ein genervtes «Das, das Brot!»

VON EVAN RUETSCH
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Ich bin Schweizer und um ehrlich zu sein, wusste ich damals auch nicht, ob es der, die oder das Brot war. Deswegen musste ich eine Integrationsklasse besuchen.

Ich bin Doppelbürger, mütterlicherseits aus Italien (Lecce) und väterlicherseits aus der Schweiz, dem Jura. Heute spreche ich Französisch, Italienisch und Deutsch, es fehlt mir nur noch Rätoromanisch, um sprachlich gesehen der vollständigste Schweizer zu werden.

Vor 15 Jahren sind wir vom Jura nach Zürich gezogen. Mir ist klar, dass viele den Kanton Jura, die Separatisten der Schweiz, nicht mögen. Dies war zwar nicht der Grund für die Integrationsmassnahmen, die mir verordnet wurden, aber genau so fühlte es sich an. Mit zehn Jahren fühlte ich mich in meinem eigenen Land nicht akzeptiert, teilweise traf dies auch zu. Der einzige Grund, weshalb ich mich integrieren musste, war, dass ich kein Deutsch sprach. Mir war klar, dass ich Deutsch lernen musste, aber mich als Schweizer in der Schweiz oder besser gesagt als Jurassier in Zürich zu integrieren, kam damals wie auch heute überhaupt nicht in Frage. Nach einem Jahr Integrationsklasse bekam ich einen Stempel in mein Zeugnis, mit Grossbuchstaben stand auf der letzten Seite: «INTEGRIERT». Ich stellte dann aber fest, dass integriert noch lange nicht akzeptiert bedeutet.

Meine staatlich verordnete Integration als Schweizer in der Schweiz hat mich eher von meinem Land entfremdet, sozusagen desintegriert, und ich finde das nicht einmal schlecht. Eine der Definitionen von Integration lautet: Jemand sorgt bewusst durch bestimmte Massnahmen dafür, dass jemand Teil einer Gruppe wird. Wir könnten diese Definition auch schöner umschreiben, und das machen auch viele, dennoch entspricht diese Definition der Wahrheit. Ich habe mich noch stärker entfremdet, weil ich nicht die Wahl hatte, mich zu entscheiden, dazuzugehören. Der Ausgang des Prozesses war von Anfang an klar – ich musste immer mehr zu einer inneren Einheit werden. Ich will als Schweizer gar nicht integriert werden, und wenn ich Ausländer wäre, würde ich das auch nicht wollen.

Das Einzige, was man können muss, um in der Deutschschweiz einigermassen zu funktionieren, ist Deutsch sprechen, der Rest ist Eigeninteresse und hat mit Integration nichts zu tun. Mir wurde oft von den Lehrern in der Primarschule gesagt: «Ach, es ist immer das Gleiche mit euch. Evan, integrier dich mal! Ihr müsst zu Hause Deutsch sprechen, und wenn ihr es nicht so macht, dann wirds verdammt schwierig für euch. Ihr müsst Teil der Gesellschaft werden!» Mir tat das damals überhaupt nicht weh, in meinem Zeugnis stand «INTEGRIERT» und damit hatte es sich. Wenn sie behaupteten, dass es immer gleich sei mit uns, wusste ich, dass dann nicht die Rede von meiner Familie war, denn sie kannten meine Familie gar nicht – es war vielmehr die Rede vom Unbekannten, von dem, was noch nicht der Gruppe angehörte. Es schockierte mich, dass sie mich verallgemeinerten. «Ihr macht alles falsch, ihr müsst das so machen, sonst sind wir nicht zufrieden, und wenn wir nicht zufrieden sind, dann müsst ihr gehen.» Hier wird die Definition von Integration eindeutig. Sie sprechen von «wir» und «ihr» im Allgemeinen und vergessen das Individuum.

Das Gefühl, kein Schweizer zu sein, obwohl mein roter Pass und meine Wurzeln mich zu einem Schweizer machen, wurde mit den Jahren stärker, als ob ich wirklich nicht aus diesem Land stammte. Ich bin enttäuscht von meinem Land und habe mich dagegen gewendet. Nicht in dem Sinne, dass die Schweiz mein Feind wäre und zerstört werden müsste, sondern dass ich ganz einfach hier lebe, und alles andere ist mir egal.

Die Antwort der Bäckerin («Das, das Brot!») auf die Frage meiner Mutter («Der, die, das Brot?») war für mich nicht schlimm, ihr Ton und ihr Blick jedoch schon. Ich habe diesen Moment, den ich als Inbegriff der Mentalität der bürgerlich-konservativen Schweiz empfand, nie vergessen. Ich fühlte mich, als ob wir nicht dazugehörten und auch nie dazugehören würden.

Dieses Gefühl ist im letzten Jahr bei der Masseneinwanderungsinitiative wieder hochgekommen. Ich war als Fotograf für ein Magazin am offiziellen Wahlbrunch der SVP (Schweizerische Volkspartei) und musste über die Liveübertragung der Wahlresultate berichten. Alle waren erstaunlich nett, doch zugleich auf beiden Seiten misstrauisch. Ich unterhielt mich mit Leuten und machte in der Unterhaltung in Schweizerdeutsch zwei, drei Artikelfehler. Ich spreche perfekt und akzentfrei Schweizerdeutsch, aber mit den Artikeln, mit der, die, das, habe ich heute noch meine kleine Mühe. Sie führten dann unser Gespräch auf Hochdeutsch weiter und begannen, langsamer zu sprechen. Aufgrund von ein paar Artikelfehlern wurde ich zum Fremden. Plötzlich gibt es zwei Welten, das Inland und das Ausland, und das Inland wurde für mich wieder zum Ausland. Ich habe mich danach einfach umgedreht und bin weitergezogen. Als ich mich umdrehte, sah ich Reue in ihren Augen.

Einige Minuten später kam mir ein Satz in den Sinn, den meine Freunde und ich während kurzer Zeit oft benutzt haben: «Wie schwer ist Teig?» Zuerst hört sich dieser Satz bescheuert an, aber die Frage «Wie schwer ist Teig?» eröffnet viele andere Fragen. Für wie viele Personen soll er reichen? Wie viel Kilo Mehl? Wie viel Liter Wasser? Vollkorn oder Butterzopf? Das sind alles Fragen, die vom klischeehaften Allgemeinen wegführen. Die Frage ist ziemlich plakativ und doch so tiefsinnig, mit ihr kann man das Allgemeine zerstören und sich wieder aufs Individuelle konzentrieren.

Evan Ruetsch (evan.ruetsch@zhdk.ch) ist im Kanton Jura aufgewachsen und lebt seit 16 Jahren in Zürich. Er hat im Sommer 2015 den Bachelor Kunst & Medien, Vertiefung Fotografie, an der ZHdK abgeschlossen und setzt aktuell sein Studium im Master Fine Arts an der ZHdK fort.

www.evanruetsch.ch

Beim Text oben handelt es sich um einen Auszug aus der Bachelor-Arbeit «Der Die Das Brot» von Evan Ruetsch. «Der Die Das Brot» ist ein Projekt, das sich mit dem Konservativismus in der Schweiz und seinen Ausdrucksweisen auseinandersetzt. Das Festhalten an Traditionen und die Erhaltung ihrer Werte beeinflussen das Leben konservativer Menschen und der Gesellschaft innerhalb, aber auch ausserhalb der Schweiz. Evan Ruetsch setzte sich in Bild und Text mit Klischees auseinander, die der konservativen Gesellschaft anhaften, ging ihnen auf den Grund und entdeckte Vielseitiges, Bestätigendes und Widerlegendes.
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