
Dieter Mersch, Leiter des Instituts für Theorie. Foto: Regula Bearth © ZHdK
Dieter Mersch ist ein Grenzgänger. Der Philosoph und Mathematiker, der seit Kurzem das Institut für Theorie (ith) leitet, entwickelt sein Denken zwischen Abstraktem und Konkretem. Mit JANINE SCHILLER spricht er darüber, warum Wissen nichts wäre ohne Ästhetik und wie er sich für die Qualifikation des Nachwuchses einsetzen möchte.
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Janine Schiller: Wie bringen Sie das mathematisch-analytische oder diskursive Denken Ihres universitären Werdegangs mit dem ästhetischen Denken, dem Wahrnehmungsdenken überein?
Dieter Mersch: Es gab immer die beiden Seiten, einerseits das Interesse für Kunst, andererseits das analytische Denken, die Philosophie. Wobei nicht einfach zu entscheiden ist, ob die Philosophie der Kunst näher steht oder der Mathematik! Ich sehe mich irgendwie dazwischen. Tatsächlich habe ich immer diesen Spagat zwischen einem sehr abstrakten Denken und dem konkreten Umgang mit Farben, Materialien, Gestalten, Formen und so weiter vollzogen. Als ich in Köln Mathematik studierte, habe ich nebenbei gemalt. Ich hatte Verbindungen mit Künstlern sowohl aus der Musik als auch aus Literatur und Malerei und stiess etwa auf die Gruppe Mülheimer Freiheit. Meine eigene Malerei fand ich allerdings im Vergleich dazu hoffnungslos anachronistisch. Gleichzeitig stellten sich mir immer wieder dieselben Fragen: Was ist das? Warum sieht das so aus? Kann man das überhaupt noch als Kunst bezeichnen? Von Anfang an hat mich zudem immer die Philosophie begleitet, die sozusagen mein Bedürfnis nach einem existenziellen Verstehen befriedigt – und die dann ausschlaggebend für die Begriffsarbeit wurde. Allerdings bestehen zwischen der Welt der Kunst und der Welt der Philosophie, wie sie an Universitäten betrieben wird, grosse Differenzen. Das philosophische Denken orientiert sich stark an Theorietraditionen, während die Kunst gewissermassen immer wieder neu anfängt. In Bezug auf die Kunst, auch auf ihre Deutung, ist man eben immer wieder ein Anfänger.
Als das ith vor bald 15 Jahren gegründet wurde, musste argumentiert werden, dass eine Kunsthochschule Theoriebildung zum Erkenntnisgewinn betreiben müsse. Das ith fokussiert heute auf eine allgemeine Theorie des Ästhetischen, die Ästhetik sowohl als eine Erkenntnisweise als auch als eine Wissenspraxis begreift. Braucht es dazu noch eine Legitimation?
Nein, die Ästhetik gehört zum Bereich der Grundlagenforschung, die ihren Ort an Kunsthochschulen besitzt. Ich spreche insbesondere von «Epistemologien des Ästhetischen». Der Titel umgreift die Tatsache, dass den Künsten eine eigene Art zu denken innewohnt, dass sie eine spezifische Kultur der Reflexion und des reflexiven Wissens ausgebildet haben, die sich von den Wissenschaften radikal unterscheidet. Es wäre nun ein Widerspruch, wenn man den diskursiv orientierten Universitäten die Behandlung solcher nicht diskursiven Formen des Denkens überliesse. Ich würde sogar noch weiter gehen: Diese besondere Form eines ästhetischen oder künstlerischen Wissens, von der ich spreche, ist meines Erachtens ein unverzichtbarer Teil aller kulturellen Wissensordnungen – ja man kann sogar sagen, dass zum Beispiel das wissenschaftliche Wissen nichts wäre ohne eine gleichzeitige ästhetische Grundierung.
Was können Sie zu den geplanten Projekten und zur Positionierung des Instituts sagen?
Der Titel «Epistemologien des Ästhetischen» steht programmatisch für etwas, was ich in den nächsten Jahren konturieren möchte am ith. Ich möchte den Schwerpunkt auf das legen, was Jörg Huber angefangen hat und was die an der ZHdK überall virulente Frage nach den Grundlagen «ästhetischen» oder «künstlerischen Forschens», dem «practice-based research», berührt. Es gibt da eine Reihe von Säulen, die das Ganze tragfähig machen sollen. Da ist zum einen die Frage nach der Entwicklung künstlerischer PhDs nach internationalem Vorbild auch für die Schweiz. Ein zweiter Schwerpunkt liegt natürlich auf den Forschungsprojekten. Ich werde das Hauptgewicht darauf legen, grössere kooperative Gemeinschaftsprojekte zu entwickeln und nicht nur Einzelprojekte, die es natürlich auch weiterhin geben wird. Die dritte Säule betrifft die Richtung der Theoriebildung selbst. Sie geht über Fragen eines genuinen Erkenntnischarakters der Künste insofern hinaus, als es ebenfalls um das Verhältnis zwischen Kunst und Politik, Kunst und Kritik, Kunst und Medien oder Kunst und Technik gehen muss. Hinzu kommt das flexible Reagieren auf aktuelle Themen, was voraussetzt, dass man sehr schnell das aufgreifen muss, was gerade diskutiert wird – und hierfür ist die Organisation von Vortragsreihen oder Workshops, begleitet von kleinen, schnellen Publikationen, das geeignete Format. Das bildet sozusagen die vierte Säule der künftigen Arbeit am Institut.
Eng mit dem Auftrag der Forschung verknüpft ist die Aufgabe, künstlerischem und wissenschaftlichem Nachwuchs Qualifikationsmöglichkeiten zu bieten. Welche Wege und Notwendigkeiten sind in dieser Hinsicht angebracht?
Die Kunsthochschulen haben den Auftrag, Künstlerinnen und Künstler, Gestalter im weitesten Sinne auszubilden. Darunter gibt es immer auch solche, die sich stärker in eine diskursiv-reflexive Arbeit einbinden wollen. Deswegen muss es Programme geben, die den Nachwuchs direkt fördern. Ich finde es nach wie vor skandalös, dass es keine solchen Programme, insbesondere kein PhD-Programm, innerhalb der Schweiz gibt. Was ich mir auf die Fahne geschrieben habe, ist neben den vielen produktiven Kooperationen, die es mit ausländischen Hochschulen gibt, den sogenannten dritten Zyklus auch für die Schweiz anzugehen.
Mit der Leitung des ith haben Sie die Aufgabe übernommen, ein Konzept für ZHdK-weite Lehrangebote zu entwickeln. Können Sie uns dazu schon mehr verraten?
Zusammen mit Ruedi Widmer aus dem Dossier Lehre habe ich Konturen eines solchen Programms entworfen – es muss noch verabschiedet, finanziert und getestet werden. Ich könnte mir vorstellen, dass die übergreifende Lehre wie ein Nukleus wirkt, ein Kern, der eine eigene Energie erzeugt. Das Schwierige dieser Formate ist allerdings, dass man versucht, etwas zu lehren, was man gar nicht lehren kann: Kreativität. Man kann Kreativität nicht programmieren.
Was braucht es für Kreativität?
Erst mal einen Raum, nicht einen physischen Raum, sondern einen Freiraum. Kreativität braucht sehr viel Input, und zwar sehr heterogene Inputs, Inputs, die gerade nicht zweckrational organisiert sind, die Ideen verbreiten, die inspirativ sind und die gewissermassen den Blick von der Seite erproben.
Ist mit dem Toni-Areal dieser inspirierende Raum gegeben?
Zunächst muss ich sagen, dass ich mich sehr freue auf diesen Umzug, das ist eine sehr grosse Chance für die ZHdK, weil man endlich den Zustand der Streuung überwinden kann. Ich begrüsse von meiner Arbeitsweise her extrem, dass man unter einem Dach ist und vieles gemeinsam entwickeln kann. Die Vereinigung der Künste ist ja immer schon eine Utopie gewesen, ob man das durch ein Haus realisieren kann, ist natürlich eine sehr offene Frage. Hinzu kommt, dass das Toni-Areal wie eine Maschine wirkt. Ich würde nicht wagen, hier irgendeine Prognose zu stellen, ich bin jedoch zuversichtlich, dass die Vorteile überwiegen werden.
Sie sind seit Oktober 2013 in der Schweiz, sind Sie gut gestartet?
Ja, ich fühle mich ausserordentlich wohl in der Schweiz. Die Menschen erlebe ich als sehr zuvorkommend. Interessant ist, dass das Soziale hier eine andere Logik besitzt als in Deutschland – übrigens eine, die weniger konkurrent ist und mehr auf Verbindlichkeit setzt. Grundsätzlich habe ich das Gefühl, ich bin hierhergekommen und habe alle Freiheit der Welt, etwas daraus zu machen. Und für diese Chance bin ich sehr dankbar.